Warkus’ Welt: Ist unsere Welt bloß konstruiert?
Seit Kurzem leben in unserer Wohnung zwei junge Katzen aus demselben Wurf, die es gewohnt sind, sich miteinander zu beschäftigen. Sie fressen zusammen, gehen zusammen aufs Katzenklo, schlafen häufig aneinandergekuschelt, vor allem balgen sie sich aber den lieben langen Tag. Sie springen aufeinander, rangeln, haschen nach ihren Schwanzspitzen und jagen im Kreis durchs Wohnzimmer.
Bemerkenswert dabei ist: Wird eine der beiden plötzlich beim Raufen abgelenkt, hört die andere nicht sofort auf, sondern hüpft und schnappt für eine kurze Weile weiter in die Leere. Einen ähnlichen Effekt machen sich auch Hundebesitzer zu Nutze, wenn sie so tun, als würden sie ein Stöckchen werfen, es aber heimlich in der Hand behalten – der Hund rennt trotzdem los. In beiden Fällen verhalten sich die Tiere also so, als wäre dort ein Gegenstand, obwohl da eigentlich keiner ist.
Uns Menschen passiert so etwas selten. In unserem Alltag kennen wir vielleicht den Griff in die Leere, wenn wir meinen, unser Handy hätte vibriert, obwohl es gar nicht in unserer Tasche ist; oder den Lichtfleck auf dem schattigen Waldweg, der aus der Ferne aussieht wie ein Haufen heller Steine. Bis auf diese Einzelfälle sind wir meist gut darin, zu erkennen, wo sich welche physischen Gegenstände befinden.
Das, was ist
Vielleicht glauben wir deshalb oft, auch außerhalb unserer unmittelbaren Umgebung zuverlässig erkennen zu können, »was ist«. Wenn jemand daran zweifelt, dass es in Deutschland angeblich einen massiven Anstieg an Messerangriffen gibt oder Schienenverkehr immer unpopulärer wird (beides ist unzutreffend), kann er damit rechnen, von anderen aufgefordert zu werden, »die Augen aufzumachen« oder »die Realität zur Kenntnis zu nehmen«. Auch Menschen, die an exponierter Stelle meinungsbildend wirken, sind mitunter gerne der Meinung, sie würden lediglich »sagen, was ist« – so etwa das Team der Talkshow »hart aber fair« anlässlich des Vorwurfs, bestimmte Themen würden dort zu häufig und in tendenziöser Weise diskutiert.
Nun sind Kriminalität oder die Fahrgastzahlen im Bahnverkehr etwas anderes als ein Stöckchen oder ein Katzenschwanz. Selbst wenn wir sehr gut informiert sind und beste Connections haben, können wir sie nicht sehen und nicht anfassen. Wir verfügen über sie nur indirekt – über Messverfahren, Statistiken, zwischengeschaltete Technik.
Im Gegensatz zu Katzen und Hunden sind wir dazu in der Lage, uns über unsere jeweiligen Wahrnehmungen und Feststellungen auszutauschen
Das kann man nun ganz grob gesagt auf zwei verschiedene Arten interpretieren: Zum einen kann man davon ausgehen, dass Kriminalität oder die Bahnkundschaft Gegenstände sind, die es ebenso objektiv gibt wie Stöckchen, die wir aber nur unter Zuhilfenahme spezieller Hilfsmittel erkennen können. Andererseits könnte man aber auch vermuten, dass dies eben keine Gegenstände sind, die es gibt und die wir deswegen erkennen können, sondern im Gegenteil, dass wir diese Gegenstände erst dadurch, dass wir bestimmte Hilfsmittel benutzen, erzeugen, konstruieren.
Letztere Position bezeichnet man daher als Konstruktivismus. Gerne wird davon ausgegangen, dass nur Gegenstände, die in der einen oder anderen Hinsicht an das Bestehen der menschlichen Gesellschaft gekoppelt sind, konstruiert sind – man spricht dann von Sozialkonstruktivismus. Man kann die Vorstellung sogar erweitern und annehmen, dass letztlich alle Gegenstände konstruiert sind, denn auch unsere Körperteile sind ja irgendwie Hilfsmittel, die uns den Dienst versagen können. Und selbst die simpelsten Wahrnehmungen sind an bestimmte technische Voraussetzungen gebunden: So kann ich mit bloßem Auge nachts nur deswegen Sterne sehen, weil nichts meine Sichtlinie blockiert.
Das heißt nun allerdings nicht, dass sich jeder seine eigene Kriminalitäts- oder Verkehrsstatistik machen kann – oder seine eigene Vorstellung davon, ob da jetzt ein Stöckchen ist oder ob es Sterne gibt. Im Gegensatz zu Katzen und Hunden sind wir dazu in der Lage, uns über unsere jeweiligen, auch abweichenden Wahrnehmungen und Feststellungen auszutauschen. Es gibt also mehr oder minder offen ablaufende Verfahren, mit denen wir kollektiv aushandeln, was es gibt und was wir für wahr oder für falsch halten.
Wenn also wieder einmal jemand abfällig davon spricht, in dieser oder jener Theorie sei zum Beispiel Geschlecht lediglich eine gesellschaftliche Konstruktion und deswegen könne ja jetzt Hinz und Kunz beliebig entscheiden, welches Geschlecht er habe – dann hilft es sich klarzumachen, dass auch Kriminalität oder Eisenbahnverkehr gesellschaftliche Konstruktionen sind. Ohne dass das hieße, dass jeder Mensch das gleiche Recht hätte, zu behaupten, wie viel Kriminalität oder wie viele Bahnfahrgäste es gibt. Nicht alles, was wir nicht anfassen können, ist deswegen völlig beliebig.
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