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Die fabelhafte Welt der Mathematik: Streit um Unendlichkeiten und Anti-Unendlichkeiten

Gibt es Zahlen, die kleiner oder größer sind als jeder endliche Wert? Schon in der Antike haben Gelehrte darüber nachgedacht – doch erst im 20. Jahrhundert gab es eine Lösung.
Unendlichkeitszeichen
Sich das Undenkbare vorstellen: Das machen Mathematiker gerne.

Über Unendlichkeiten hat die Menschheit seit jeher nachgedacht. Sie bestimmt auch schon: Was passiert zum Beispiel, wenn man eine Zahl immer weiter um eins erhöht? Ist es möglich, irgendwann bei einem Wert zu landen, der alle natürlichen Zahlen übersteigt? Man kann sich aber auch über das Gegenteil Gedanken machen: Was passiert, wenn man den Betrag einer Zahl immer kleiner werden lässt? Die ältesten Aufzeichnungen zu solchen Überlegungen stammen von Archimedes, der im 3. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung lebte. Richtig bedeutsam wurden Unendlichkeiten und ihr Gegenteil, so genannte Infinitesimale, jedoch erst mit der Geburtsstunde der Analysis im 17. Jahrhundert. Und diese wurde von einer der heftigsten wissenschaftlichen Streitigkeiten begleitet, die die Welt bis dahin gesehen hatte.

In den 1660er und 1670er Jahren hatten sowohl Isaac Newton als auch Gottfried Wilhelm Leibniz die Grundlagen für die heutige Analysis geschaffen: einen Bereich der Mathematik, der sich unter anderem mit dem Vermessen geometrischer Figuren und der Untersuchung veränderlicher Größen beschäftigt. Newton forschte zu jener Zeit am Trinity College in Cambridge. Dann suchte 1666 die Beulenpest Europa heim, weshalb die Universität für dieses Jahr ihre Tore schloss. Anders als die meisten anderen nahm Newton das nicht zum Anlass, sich auszuruhen, sondern widmete sich noch intensiver seiner Forschung – und machte dort beeindruckende Fortschritte in allerlei Bereichen: von Optik über Bewegungslehre bis hin zu einer Theorie der Gravitation. Besonders faszinierten den jungen Physiker veränderliche Systeme. Um diese zu beschreiben, brauchte er allerdings eine neue Art von Mathematik, die der damals 23-Jährige zu diesem Zweck erfand.

Wie bestimmt man die Geschwindigkeit zu einem bestimmten Zeitpunkt?

Angenommen, Sie lassen einen Ball zu Boden fallen. Seine Geschwindigkeit wird mit der Zeit zunehmen, da die Anziehungskraft der Erde ihn beschleunigt. Die zurückgelegte Strecke s des Balls lässt sich über die Bewegungsgleichung s = ½g·t2 beschreiben, wobei g = 9,81 m / s2 die Schwerebeschleunigung darstellt. Um die Formeln möglichst kurz zu halten, verzichten wir im Folgenden auf Einheiten und runden g ≈ 10. Damit erhält man für die zurückgelegte Strecke ungefähr den Wert s = 5t2 in der Einheit Meter. Was aber, wenn man wissen möchte, welche Geschwindigkeit der Ball nach einer Sekunde hat? Bekannt ist, dass die durchschnittliche Geschwindigkeit v eines Objekts der zurückgelegten Strecke dividiert durch die dafür benötigte Zeit ist: v = st. Doch was, wenn sich die Geschwindigkeit durchweg ändert und wir an v(t) zu einem bestimmten Zeitpunkt t interessiert sind?

Fallender Ball

Newton erkannte, dass das Ergebnis für die momentane Geschwindigkeit exakter ausfällt, je kleiner man das Zeitintervall wählt, aus dem man den Wert berechnet. Dafür führte er schließlich eine »infinitesimale« Größe dt ein, die einem winzigen Zeitabschnitt entspricht – kleiner als jede gewöhnliche Zahl. Schon Archimedes hatte über solche Zahlen nachgedacht und sie folgendermaßen definiert: |dt| < 11, |dt| < 11+1, |dt| < 11+1+1, …

Die Geschwindigkeit zu einem Zeitpunkt t = 1 ließe sich demnach berechnen, indem man die innerhalb von t = 1 und t = 1 + dt zurückgelegte Distanz s(1+dt)−s(1) durch das Zeitintervall dt teilt. Wenn man die Werte für t in die Streckenformel einsetzt, erhält man: s(1+dt) = 5·(1 + dt)2 = 5 + 10dt + 5dt2 und s(t = 1) = 5. Damit folgt für die Geschwindigkeit v zum Zeitpunkt t = 1: v(t = 1) = (s(1+dt)−s(1))/dt = (10dt + 5dt2)/dt = 10 + 5dt. Was bedeutet dieses Ergebnis, das noch von dt abhängt? Newton ließ diesen Term einfach weg, wodurch man v(t = 1) = 10 (Meter pro Sekunde) erhält.

Viele Menschen denken, Mathematik sei kompliziert und öde. In dieser Serie möchten wir das widerlegen – und stellen unsere liebsten Gegenbeispiele vor: von schlechtem Wetter über magische Verdopplungen hin zu Steuertricks. Die Artikel können Sie hier lesen oder als Buch kaufen.

Ähnliche Überlegungen stellte der studierte Philosoph Leibniz fast zeitgleich an – allerdings aus völlig anderen Gründen. Er suchte damals nach einer Möglichkeit, die Fläche unterhalb einer Kurve zu berechnen. Dafür teilte er die Fläche in immer kleinere Intervalle ein, um sie durch die Summe zahlreicher rechteckiger Flächen anzunähern. Die Berechnung fällt umso genauer aus, je schmaler die Intervalle gewählt werden. Und so führte auch Leibniz Infinitesimale dx ein.

Integral | Um die Fläche zu berechnen, die eine Kurve mit der x-Achse einschließt, kann man die Fläche in schmale Intervalle aufteilen.

Genauere Untersuchungen solcher Infinitesimalen rückten erst einmal in den Hintergrund: Die Aufmerksamkeit der Fachwelt richtete sich zunächst auf einen Streit zwischen Leibniz und Newton. Zwar hatte Leibniz die Theorie vor seinem englischen Kollegen veröffentlicht, doch Newton behauptete, Leibniz habe seine unveröffentlichten Arbeiten zur Infinitesimalrechnung zuvor gesehen und seine Ideen gestohlen. Die britische Gelehrtengesellschaft Royal Society leitete daraufhin eine Untersuchung ein, die Newtons Anschuldigungen bestätigte. Später stellte sich allerdings heraus, dass der Physiker selbst Teil der Untersuchungskommission gewesen war. Doch Leibniz' Ruf war ruiniert; er starb im Jahr 1716 – und weil niemand sich verantwortlich fühlte, sich um das Begräbnis zu kümmern, erhielt sein Grab zunächst keine Beschriftung. Erst 75 Jahre später wurde die Inschrift »OSSA LEIBNITII« (die Gebeine von Leibniz) angebracht. Um 1900 herum stellten Wissenschaftshistoriker fest, dass es zwischen Leibniz' und Newtons Ausarbeitungen zur Analysis starke Unterschiede gab und deshalb beide Wissenschaftler wohl unabhängig voneinander zu ihren Erkenntnissen gekommen waren.

Sind Infinitesimale real?

Während einige Mathematiker wie Guillaume de L'Hospital von der Existenz von Infinitesimalen überzeugt waren, äußerten sich Leibniz und Newton vorsichtiger. Ersterer behauptete nicht, dass die ungewöhnlichen Größen wirklich existieren, aber dass man mit ihrer Hilfe korrekte Schlussfolgerungen treffen könne. Newton ging sogar noch weiter: Obwohl seine Berechnungen in den »Principia Mathematica« auf Infinitesimalen fußte, hatte er sie vor der Veröffentlichung durch gewöhnliche Berechnungen ersetzt oder schlicht weggelassen.

Aber es gab auch hartgesottene Gegner. Etwa den Philosophen George Berkeley, der 1734 argumentierte: Größen wie 10 + 5dt könnten unmöglich dasselbe sein wie 10, da in der Mathematik selbst winzigste Werte eine entscheidende Rolle spielten. Mit der Berechnung der Geschwindigkeit zu einem bestimmten Zeitpunkt hätten wir aus Berkeleys Sicht also nicht die exakte Geschwindigkeit bestimmt, sondern nur eine Annäherung davon. Er kam zu dem Schluss: »Was sind diese flüchtigen Infinitesimalen? Sie sind weder endliche Größen noch unendlich kleine und doch auch nicht nichts. Dürfen wir sie nicht die Geister verstorbener Größen nennen?«

Auch wenn einige Fachleute Berkeleys Einschätzung und Bedenken teilten, wurden Infinitesimale weiterhin genutzt. Der Erfolg schien ihnen Recht zu geben: Dank der Anti-Unendlichkeiten konnten in Gebieten der Physik und der angewandten Mathematik zahlreiche Fortschritte erzielt werden. Dennoch fehlt eine theoretische Grundlage, um mit diesen Objekten umzugehen. Im 19. Jahrhundert gelang es Karl Weierstraß, einen Ausweg zu finden, der Infinitesimale ganz umschiffte: Um Größen wie die Geschwindigkeit zu festen Zeitpunkten oder die Fläche unter einer Kurve zu definieren, nutzte er Grenzwerte. Damit umging er zwar das Problem; das sorgte jedoch für gestelzte Definitionen, etwa: v ist die gesuchte Geschwindigkeit, falls für jedes ε>0 der Betrag von ΔsΔt − v kleiner ist als ε für alle Werte von |Δt|<δ, wobei δ>0. Solche Epsilon-Delta-Definitionen sind auch jene, die man üblicherweise im Grundstudium mathelastiger Fächer lernt. Sie funktionieren gut, sind aber nicht besonders elegant.

Tatsächlich gelang es erst Abraham Robinson im Jahr 1966, eine mathematische Theorie der Infinitesimalen zu entwickeln. Er baute dabei auf abstrakten Erkenntnissen von Kurt Gödel auf, der das Gebiet der Logik kurz zuvor revolutioniert hatte. Gödel hatte einen Weg gefunden, mit den Mitteln der Mathematik über das Fach selbst nachzudenken. Einen bestimmten Bereich des Fachs, etwa die Standardanalysis, wie Weierstraß sie beispielsweise definiert hatte, kann man als »Universum« M ansehen. Wir Menschen haben eine Sprache L entwickelt, um über solche Universen nachzudenken. Diese Sprache umfasst Formeln und formale Aussagen. Jeder Satz in L sagt etwas über das Universum M aus, das entweder richtig oder falsch ist (zum Beispiel: 1 + 1 > 1, was korrekt ist). Alle falschen Aussagen kann man hingegen umkehren, so dass auch sie zu einer richtigen Aussage werden. (Natürlich kennen wir in der Realität weder alle richtigen noch alle falschen Aussagen – sonst hätten wir alle Rätsel der Analysis gelöst. Es handelt sich also um eine rein theoretische Überlegung.) Nun kann man alle richtigen Aussagen aus L und alle negierten falschen Aussagen aus L in eine Sammlung K zusammenfassen. M ist dann eine Art »Modell« für K: Jede Aussage in K ist bezüglich M korrekt. Wie Gödel gezeigt hat, können auch andere Modelle, zum Beispiel M*, zu K gehören. M* könnte völlig andere Objekte enthalten als M, aber die gleichen Zusammenhänge aufweisen, so dass sich die gleiche Sammlung an richtigen Aussagen K ergibt.

Angenommen, M bestehe aus allen Fischen innerhalb eines Sees. Über die Tiere lassen sich allerlei Aussagen treffen, etwa dass einer der Fische schneller schwimmen kann als ein anderer. M* könnte hingegen den gesamten See umfassen, also auch das Wasser. Damit ließe sich immer noch jede Aussage über M auf M* übertragen. Ähnlich lässt sich die Standardanalysis mit reellen Zahlen (in diesem Fall M) auf ein größeres Modell erweitern. Das konnte Robinson zeigen, indem er zwei Kernaussagen der Logik benutzte:

  1. Vollständigkeit (Gödel hat glücklicherweise nicht nur zwei Unvollständigkeitssätze bewiesen, sondern auch einen Vollständigkeitssatz): Eine Menge logischer Aussagen ist genau dann widerspruchsfrei, wenn es ein Universum gibt, in dem sie alle wahr sind.
  2. Kompaktheit: Angenommen, es gibt eine Sammlung von Aussagen, deren Teilmengen alle in M wahr sind. Dann ist jede endliche Teilmenge von ihnen widerspruchsfrei. Damit muss es wegen der Vollständigkeit ein Universum geben, in der die gesamte Sammlung dieser Aussagen wahr ist.

Der zweite Punkt führt zu dem Ergebnis, dass es zwangsläufig ein Universum gibt, in dem Infinitesimale existieren. Denn die bereits von Archimedes genutzte Definition von Infinitesimalen ε>0 liefert unendlich viele wahre Aussagen in unserem gewöhnlichen Mathe-Universum der reellen Zahlen: ε < 11, ε < 12, ε < 13, … Aus der Kompaktheit folgt, dass jede endliche Teilmenge dieser Aussagen widerspruchsfrei ist. Die Vollständigkeit besagt dann, dass es ein Universum gibt, in dem alle gleichzeitig wahr sind. Demnach muss es also ein Universum mit Infinitesimalen geben, das die reellen Zahlen erweitert. Auf analoge Weise lässt sich ein Universum konstruieren, in dem Unendlichkeiten ω existieren, wenn man folgende Aussagen betrachtet: ω > 1, ω > 2, ω > 3, …

Viel Verbreitung hat die so genannte »Nichtstandardanalysis«, in der Infinitesimale existieren, bisher nicht gefunden. Die Theorie ist zwar durchaus interessant, allerdings fallen Berechnungen in dem Bereich oft extrem kompliziert aus. Um Beweise zu führen, sind Standard-Analysis-Methoden meist geeigneter.

​​Was ist euer Lieblingsmathetheorem? Schreibt es gerne in die Kommentare – und vielleicht ist es schon bald das Thema dieser Kolumne!

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