Freistetters Formelwelt: Auch KI kann wissenschaftliche Entdeckungen machen – zumindest fast
»Eine neue KI denkt genauso wie die berühmtesten Wissenschaftler.«
»Künstliche Intelligenz als Forscher.«
»KI-Wissenschaftler macht die gleichen Entdeckungen wie Kepler und Co.«
Das sind nur drei von vielen Schlagzeilen, mit denen Medien eine im April 2023 erschienene wissenschaftliche Arbeit betitelten. Eine künstliche Intelligenz (KI) soll Naturgesetze entdeckt und teilweise die Arbeit von berühmten Forschern wie Johannes Kepler und Albert Einstein reproduziert haben. Das klingt beeindruckend, ist aber bei genauerer Betrachtung nicht der Durchbruch, nach dem die Schlagzeilen klingen.
Das zum Beispiel ist laut KI das dritte keplersche Gesetz:
Das sieht nicht so aus wie das, was wir vielleicht noch aus dem Schulunterricht wissen. Dort lernt man das dritte keplersche Gesetz zur Planetenbewegung meist in dieser Form kennen: »Die Quadrate der Umlaufzeiten stehen im gleichen Verhältnis wie die Kuben der großen Halbachsen.« Ein Quadrat der Umlaufzeit (p) und eine dritte Potenz des Abstands des Planeten zur Sonne (d) kann man in der Formel durchaus erkennen.
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Mit dem dritten keplerschen Gesetz, so wie man es normalerweise kennt, hat die Gleichung der KI jedoch wenig zu tun. In seiner exakten Form muss man dort natürlich auch die Masse der Sonne und der Planeten berücksichtigen, ebenso die Gravitationskonstante. Massen, Gravitationskonstante und andere numerische Faktoren in Keplers Formel kann man sich zwar in der Zahl 0,1319 zusammengefasst denken (und muss dann noch berücksichtigen, dass die KI aus technischen Gründen nicht mit den üblichen SI-Einheiten von Meter, Kilogramm und Sekunde gerechnet hat). Aber von einem echten »Naturgesetz« oder einer Erkenntnis, die der von Johannes Kepler nahekommt, ist diese Gleichung weit entfernt.
Eine KI ist nicht mit Kepler oder Newton gleichzusetzen
Das fängt schon mit den Voraussetzungen an: Der künstlichen Intelligenz wurden nicht nur Daten für Massen, Abstände und Umlaufzeiten vorgegeben, sondern auch diverse Formeln, unter anderem das newtonsche Gravitationsgesetz. Im Gegensatz zu Johannes Kepler »wusste« die KI also schon darüber Bescheid, wie sich Himmelskörper gegenseitig anziehen. Hätte Kepler dieses Wissen besessen, hätte er sich die Arbeit mit seinen drei Gesetzen sparen können. Denn die sind nur eine andere Formulierung dessen, was Isaac Newton später (und wesentlich exakter) herausgefunden hat. Der Formel, die die KI für den Zusammenhang zwischen Umlaufzeit und Abstand entwickelt hat, fehlt außerdem ein Teil des physikalischen Inhalts. Eben weil Faktoren wie Gravitationskonstante oder die beteiligten Massen nicht explizit aufgeführt werden, ist es fast unmöglich, daraus weitergehende Erkenntnisse abzuleiten.
Die künstliche Intelligenz hat zwar noch weitere Formeln aufgestellt, die teilweise auch Massen berücksichtigen. Dennoch hat das mit dem, was ein Mensch aus den Daten machen würde, wenig zu tun. Dazu muss man nur einen Blick in die »Astronomia Nova« werfen: In diesem Werk aus dem 17. Jahrhundert hat Kepler fast schon tagebuchartig den kreativen Prozess notiert, der am Ende zu seinen Entdeckungen geführt hat. Die KI hat hingegen »nur« eine brauchbare Formel gefunden, um die Beobachtungsdaten zu beschreiben. Auch das ist eine relevante Leistung: Die neue Arbeit hat gezeigt, dass man eine KI dazu bringen kann, halbwegs sinnvolle mathematische Beziehungen zu formulieren. Mit »denken wie die berühmtesten Wissenschaftler« hat das aber nichts zu tun.
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