In Bestform: »Konflikte zu meiden, ist die höchste Stufe des Kampfsports«
Warum praktizieren so viele Menschen einen Kampfsport wie Judo, Kung-Fu oder Krav Maga – und welche Disziplin passt zu mir? Swen Körner, Professor für Trainingspädagogik und Martial Research an der Deutschen Sporthochschule Köln, erklärt im Interview, worauf es ankommt.
»Spektrum.de«: Karate, Judo, Taekwondo – Kampfsportarten gibt es zuhauf. Wie viele kennen Sie, Herr Körner?
Swen Körner: Auf Anhieb fallen mir sicherlich 20 bis 30 ein. Neben denen, die Sie bereits genannt haben, sind auch Boxen, Ringen und Fechten populär. Daneben gibt es eher unbekannte Kampfsportarten wie Savate, das ist so eine Art Kickboxen und kommt aus Frankreich.
Interessant. Mein Eindruck war bisher: Die meisten Kampfsportarten stammen aus dem asiatischen Raum. Ist das falsch?
Der Kampfsport fächert sich weit auf und wird rund um den Globus praktiziert. Beim Ringen beispielsweise hat fast jedes Land seine eigene Tradition. Man kann schon sagen, dass Länder wie China und Japan besonders breit aufgestellt sind. Vom chinesischen Kung-Fu etwa gibt es Hunderte von Stilvarianten. Vielleicht hängt dieser Eindruck aber auch mit unserer Perspektive zusammen. Meistens findet man interessanter, was andere machen. Aus europäisch-westlicher Sicht ist das vor allem die asiatische Kampfkunst.
Wann wurde Kampfsport hier zu Lande populär?
Boxen und Ringen gibt es in Deutschland bereits sehr lange, in den modernen Varianten seit dem 19. Jahrhundert. Auch japanischer Kampfsport wurde schon vor dem Zweiten Weltkrieg betrieben, er war aber in der Bevölkerung noch nicht sehr verbreitet. In den 1960er und 1970er Jahren fand dann eine Art Boom statt. Seither ist Deutschland ein wirklich kampfsportaffines Land.
Von Sportler zu Sportlern
Seine Leidenschaft für den Kampfsport entdeckte Swen Körner schon als Kind mit Martial-Arts-Filmen wie »Enter the Dragon«. Im Alter von 14 Jahren begann er mit Vollkontakt-Taekwondo und kämpfte viele Jahre in der Deutschen Nationalmannschaft. Später erlernte er auch andere Selbstverteidigungsstile wie Combatives, Wing Chung und Krav Maga, die er bis heute praktiziert und unterrichtet.
Warum ist das so?
Die Gründe sind vielschichtig. In den 1970er Jahren kamen Kung-Fu-Filme rund um die Figur Bruce Lee auf den Markt. Sie lösten einen weltweiten »kung fu craze« aus, der auch auf Deutschland übergesprungen ist. Sicherlich kennen Sie das Lied »Kung Fu Fighting« von Carl Douglas aus dem Jahr 1974. Außerdem bestanden zu dieser Zeit persönliche Kontakte einzelner Kampfsportfreaks nach China; sie haben Teile der chinesischen Kampfkunst wie etwa das Wing Chun an Land gezogen. Seither erfüllen die verschiedenen Kampfsportarten sehr unterschiedliche gesellschaftliche und individuelle Bedürfnisse.
Welche zum Beispiel?
Manche Menschen haben das Gefühl, sich auf Grund einer gefühlten Zunahme von Gefahren verteidigen zu müssen. Andere betreiben Kampfsport vor allem aus Fitness- und Leistungsmotiven. Und wieder andere wollen in eine soziale Gemeinschaft eingebunden sein. Das soziale Miteinander spielt im Kampfsport eine große Rolle, wie wir in Untersuchungen festgestellt haben.
»Ich finde es eine wertvolle Erfahrung, in einem geschützten Übungsraum selbst mal Gewalt auszuüben. Und auch zu wissen, wie es ist, geschlagen und getreten zu werden«
Ist das nicht ein Widerspruch? Schließlich kämpft man doch gegeneinander.
Nein. Nach zwei Jahren Wing Chun oder Krav Maga sagen viele: »Ich bin ursprünglich mal gekommen, um fitter oder beweglicher zu werden. Mittlerweile ist es vor allem das soziale Miteinander, was mich dazu bewegt, zwei- bis dreimal die Woche ins Training zu gehen.« Im Training geht es nicht darum, sein Ego um jeden Preis durchzusetzen und dem anderen zu schaden. Konflikte zu meiden, ist sozusagen die höchste Stufe des Kampfsports. Vielleicht muss man mal selbst Kampfsport machen, um das besser zu verstehen. Ein Großteil der Konflikte, in denen es zu Gewalt kommt, wäre vermeidbar gewesen. Die beteiligten Parteien hätten an vielen Stellen die Möglichkeit gehabt, auszusteigen. Häufig besteht aber jeder darauf, Recht zu haben. Die Situation schaukelt sich hoch – und irgendwann knallt es. In Selbstverteidigungsstilen wie Krav Maga lernen Sie auch, Ihr Ego an die Seite zu stellen, nachzugeben und dem Konflikt und der damit verbundenen Gefahr aus dem Weg zu gehen.
Ich lerne also zu kämpfen, um es möglichst nicht anwenden zu müssen?
Richtig. Ich finde es eine wertvolle Erfahrung, in einem geschützten Übungsraum selbst mal Gewalt auszuüben. Und auch zu wissen, wie es ist, geschlagen und getreten zu werden. Im Krav-Maga-Training werden Sie damit wohldosiert und abhängig von Ihren persönlichen Voraussetzungen konfrontiert. Das macht in gewisser Weise demütig. Ihnen wird klar: Gewalt hat immer Konsequenzen. Sie tut weh. Und Sie müssen Ihr Handeln verantworten. Hier geht es nicht um Heldentum.
Das hilft vielleicht, im Ernstfall richtig zu reagieren. Ich habe selbst mal eins auf die Nase bekommen und war im ersten Moment so überrascht, dass ich überhaupt nichts tun konnte.
Genau. Was Sie in so einem Fall tun sollten, hängt natürlich von der konkreten Situation ab. War es nicht gefährlich, war es vermutlich gut, nicht zurückzuschlagen. Idealerweise wäre es aber gar nicht zu dem Schlag gekommen. Ein gutes Training hätte Sie so vorbereitet, dass Sie die Gefahr wohl früher erkannt hätten. Sicherlich hätten Sie auch etwas tun können, um den Schlag abzuwenden oder zumindest nicht voll getroffen zu werden.
Trotzdem kann mal ein Schlag ins Auge gehen. Wie hoch schätzen Sie das Verletzungsrisiko im Vergleich zu anderen Sportarten ein?
Die landläufige Annahme, dass Kampfsport gefährlich ist, hat damit zu tun, dass viele gar nicht genau wissen, was das ist. Wir kennen Kampfsport vor allem aus Hollywood-Filmen und denken, genauso läuft das in jedem Training ab. Vor einigen Jahren haben wir die Verletzungsrisiken verschiedener Sportarten verglichen. Dabei landete der Kampfsport auf einem der hintersten Ränge, weit hinter Fußball, Handball oder Basketball. Diese Daten entsprechen denen von Unfallversicherungen.
Und da ist es auch erst mal egal, welchen Stil man betreibt?
Ganz egal nicht. In der erwähnten Untersuchung haben wir uns Judo, Krav Maga und Aikido angeschaut. Die meisten Verletzungen gab es im Judo, und hier vor allem an den Gelenken. Das deckt sich mit Studiendaten aus den USA, unter anderem zu Mixed Martial Arts. Insgesamt sind Kampfsportarten, wo mit engem und starkem Körperkontakt gearbeitet wird, natürlich riskanter. Vor allem, wenn mit einem Leistungsmotiv trainiert wird. Interessanterweise verletzen sich Kampfsportler weniger im Wettkampf als im Training. Darauf kommt es also an. In einem guten Kampfkunsttraining wird man nicht ins kalte Wasser geworfen, sondern von der Trainerin oder dem Trainer an das Kämpfen herangeführt.
Bei manchen Kampfsportarten trägt man dazu auch einen Handschuh oder hält ein Polster vor sich.
Genau, da gibt es entsprechende Schutzausrüstung. Mein Trainingspartner hat es sicherlich nicht gerne, wenn ich ihn direkt in den Bauch haue, er würde wahrscheinlich nicht wiederkommen. Wenn ich so ein Polster nehme – wir nennen es Pratze –, dann kann ich richtig loslegen. Und ich spüre, welche Wirkung ich entfalten kann.
Und wenn ich nun so gar keine Lust auf Körperkontakt und Zweikampf habe – welche Kampfsportarten würden Sie mir empfehlen?
Zum Beispiel Tai-Chi oder Qigong, beide Stile kommen aus China. Sie haben ihren Zweck nicht primär im Kontakt zu anderen, sondern richten sich auf den Praktizierenden selbst. Deshalb werden sie auch als innere Stile bezeichnet. Es geht darum, sich mit sich selbst, mit seinem Körper, seinen Bewegungen und seiner Atmung auseinanderzusetzen, um einen anderen Bezug zu sich selbst herzustellen.
Ich war schon mal bei Qigong. Da wurde mir gesagt, dass die Bewegungen ursprünglich auch der Selbstverteidigung dienten. Haben nicht die meisten Kampfsportarten im Grunde diesen Charakter?
Im Prinzip schon. Der Ursprungsgedanke von Kampfsport und Kampfkunst liegt immer im Kämpfen und der kriegerischen Auseinandersetzung. Daher stammt auch der Begriff »Martial Arts«. Das ist ein Sammelbegriff für alles, was wir als Kampfsport, -kunst und Selbstverteidigung kennen. Wörtlich bedeutet das: die Künste des Mars. Mars war der Gott des Krieges. Dennoch haben Kurse, wo Sie allein stehen und Bewegungsabläufe nachmachen, in der Regel nichts mehr mit Selbstverteidigung zu tun. Auch wenn bestimmte Bewegungen theoretisch dazu dienen könnten.
Die Bewegungen sind meistens auch sehr langsam. Für mich war das nichts. Welche Stile empfehlen Sie Menschen, die sich gerne richtig auspowern möchten?
Da gibt es viele Optionen. Die meisten Kampfsportarten sind von einem sportlichen Gedanken getragen, sprich: Das Training ist anstrengend. Aber es gibt auch ganz gezielte Angebote, beispielsweise in Studios: Fitness-Boxen, Fitness-Kickboxen, Fitness Krav Maga, Fitness Mixed Martial Arts.
Und das geht ohne engen Körperkontakt?
Ja, meistens liegt der Fokus auf Schlag- und Trittkombinationen, die ein Trainer oder eine Trainerin vormacht. Dazu gibt es Musik. Je nach Fitnesslevel kann man die Intensität steigern und so richtig gut am Herz-Kreislauf-System und der Muskulatur arbeiten.
»Wenn Sie fallen lernen möchten, sind Sie im Judo oder Ju-Jutsu gut aufgehoben«
Was ist mit Älteren oder mit Menschen, die gesundheitlich eingeschränkt sind: Können sie trotzdem Kampfsport machen?
Das muss man sich immer im Einzelfall anschauen: Hat die Person beispielsweise eine künstliche Hüfte, kaputte Knie oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen? Darauf muss man natürlich Rücksicht nehmen. Einem älteren Menschen, der einfach nur Angst davor hat, hinzufallen, würde ich auf jeden Fall empfehlen, einmal in ein breitensportliches Judo- oder Aikido-Training hineinzuschnuppern. Die werden da sehr vorsichtig mit ihm umgehen. Das Ziel wäre auch zu lernen, richtig zu fallen.
Also Kampfsport als Sturzprophylaxe?
Genau. Wenn Sie aktiv an die Sache herangehen und fallen lernen möchten, sind Sie bei der Fallschule im Judo oder Ju-Jutsu gut aufgehoben. Das kann im Alltag einen entscheidenden Unterschied machen. Wenn ich mich mit Judokas unterhalte, höre ich oft: »Dann habe ich meine Judo-Rolle gemacht.« Sogar in Situationen, wo man denkt: Das geht doch gar nicht, etwa bei einem Sturz vom Motorroller. Studien zeigen, dass kampfsportliches Training hilft, Stürzen vorzubeugen, zum Beispiel Tai-Chi oder Judo. Abgesehen davon kann es auch bei der Persönlichkeitsentwicklung – egal, ob jung oder alt – helfen. Wenn man aus seiner Komfortzone herauskommt und es einfach mal ausprobiert, dann wird man häufig überrascht. Auf einmal schafft man Dinge, die man noch vor einem halben Jahr nicht für möglich gehalten hätte.
»Die Systeme sind immer nur so gut wie die Leute, die sie unterrichten«
Welche Tipps haben Sie sonst noch für Leute, die gerne einen Kampfsport anfangen würden, aber überhaupt nicht wissen, welchen?
Es ist mittlerweile tatsächlich schwierig, die Übersicht zu behalten. Im Internet kann man sich recht gut informieren, ich rate aber immer, auch auf das Umfeld zu hören: Was erzählen Verwandte, Freunde, Kolleginnen? Meistens gibt es jemanden, der etwas in diese Richtung macht. Das kann Orientierung geben. Ansonsten empfehle ich, in ein Probetraining zu gehen: Probieren Sie unterschiedliche Stile aus. Achten Sie auch auf die Atmosphäre: Wie wirkt das auf Sie, wie verhalten sich die anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmer, wie ist die Interaktion mit der Trainerin oder dem Trainer, welche Kultur herrscht dort? Und, fast am wichtigsten: Macht mir das Spaß? Wenn Sie mit einem Lächeln im Gesicht rausgehen, dann war es gut.
Sicherlich hängt viel vom Trainer oder der Trainerin ab. Wenn er oder sie mir unsympathisch ist, hat es vermutlich keinen Wert.
Gut, dass Sie das ansprechen. Häufig denken die Leute, es ginge in erster Linie darum, den richtigen Stil zu finden. Aber die Systeme sind immer nur so gut wie die Leute, die sie unterrichten. Es geht also vor allem um das trainingspädagogische Wissen und Können. Das setzt auch die Fähigkeit voraus, mit unterschiedlichen Menschen entsprechend umgehen zu können. Wenn ich ins Training komme, sollte ich mich abgeholt fühlen.
Die Teilnehmenden sind ja häufig auf unterschiedlichen Niveaus. Was sie jeweils können und wollen, ist für Trainerinnen und Trainer sicherlich nicht so einfach abzuschätzen.
Richtig. Das gehört auch zu den Punkten, die man bei einem Probetraining abklären sollte. Fragen Sie nach, welches Konzept hinter dem Training steckt. Einen guten Trainer erkennt man daran, dass er gute Antworten darauf hat. Vor allem im Krav Maga sagen viele: Wir gestalten das Training so, dass wir gemeinsam, jeder im Rahmen seiner Möglichkeiten, trainieren können. Andere bieten je nach Niveau verschiedene Gruppen an, zum Beispiel für Anfänger und Fortgeschrittene.
Kleines Kampfsport-ABC
Aikido ist eine eher sanfte, moderne japanische Kampfkunst. Ziel ist es, den Gegner körperlich davon zu überzeugen, dass seine Angriffe sinnlos sind.
Brazilian Jiu-Jitsu ist eine Abwandlung und Weiterentwicklung von Judo und Ju-Jutsu. Der Schwerpunkt liegt auf dem Bodenkampf, aber auch Wurftechniken gehören dazu.
Combatives umfasst ein Bündel verschiedener Fertigkeiten für Nahkampf und Selbstverteidigung.
Judo (japanisch für »sanfter/flexibler Weg«) beginnt mit einer Fallschule. Wenn der Übende gelernt hat zu fallen, ohne sich zu verletzen, startet der Zweikampf nach dem Prinzip »Siegen durch Nachgeben«.
Ju-Jutsu wurde in Deutschland entwickelt. Die Technik umfasst Elemente aus Aikido, Judo und Karate und wird auch von deutschen Sicherheitsbehörden verwendet.
Karate (japanisch: »leere Hand«) galt ursprünglich als Weg zur Selbstfindung und Selbsterfahrung. Heute wird Karate als Sport und Selbstverteidigung betrieben und beinhaltet hauptsächlich Schläge und Tritte.
Krav Maga kommt aus dem Hebräischen und bedeutet »Kontaktkampf«. Krav Maga geht unter anderem auf den Boxer und Ringer Imrich Lichtenfeld zurück: In den 1930er Jahren lehrte er Juden, sich gegen antisemitische Übergriffe zu wehren. Es soll jeden Menschen befähigen, Konflikte zu vermeiden, sich aber auch mit einfachen Mitteln wie Schlägen, Tritten, Griffen und Bodenkampf zu verteidigen.
Kung-Fu ist der Ursprung vieler chinesischer Kampfkünste. Heute gibt es verschiedene Kung-Fu-Stile. In der chinesischen Sprache bezeichnete der Begriff zuerst eine durch harte Arbeit erworbene Kunstfertigkeit.
Mixed Martial Arts ist ein moderner Vollkontaktsport. Die Kämpfer bedienen sich unterschiedlicher Techniken, etwa aus dem Boxen, Thai-Boxen, Taekwondo, Karate, Ringen oder Judo. Es gibt daher relativ wenig fixe Regeln; auch im Bodenkampf darf geschlagen und zum Teil getreten werden.
Qigong ist eine chinesische Meditations-, Konzentrations- und Bewegungsform. Die Übungen sollen die vitale Kraft des Körpers (das »Qi«) stärken und harmonisieren. »Gong« bedeutet »Arbeit«, aber auch »Fähigkeit« oder »Können«.
Savate ist ein französischer Kampfsport. Ursprünglich wurde er von Matrosen für Raufereien entwickelt. Ähnlich wie in vielen asiatischen Kampfstilen wird mit Schlägen und Tritten gekämpft.
Taekwondo stammt aus Korea. Die drei Silben stehen für Fußtechnik (tae), Handtechnik (kwon) und Weg (do). Insgesamt kämpft man mehr mit den Beinen als mit den Armen, es kommt auf Schnelligkeit und Dynamik an.
Tai-Chi, auch Taijiquan, zählt wie Qigong zu den so genannten inneren Kampfkünsten. Es soll den Fluss des Qi (oder Chi) verbessern und der Persönlichkeitsentwicklung und Meditation dienen.
Wing Chun ist ein chinesischer Kung-Fu-Stil und wurde durch Bruce-Lee-Filme bekannt. Der Legende nach soll er von einer Frau entwickelt worden sein.
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben