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»Bild« versus Drosten: Kein Verständnis von Wissenschaft

Christian Drostens Studie zur Viruslast von Kindern wird von der »Bild« stark kritisiert. Dabei scheint es eher so, als hätten weder einige Zeitungsmitarbeiter noch ihr Chefredakteur verstanden, wie wissenschaftlicher Erkenntnisgewinn funktioniert. Ein Kommentar von Daniel Lingenhöhl.
Kinder mit Mundschutz (Symbolbild)

Verbreiten Kinder das neue Coronavirus Sars-CoV-2 ähnlich stark wie infizierte Erwachsene? Was würde das für die Epidemie bedeuten? Und ist es gerechtfertigt, dass Kindertagesstätten und Schulen noch für Wochen nicht den Regelbetrieb aufnehmen? Mit diesen Fragen beschäftigt sich ein Großteil der deutschen Bevölkerung seit März. Die Diskussionen sind hitzig.

Im Zentrum des Streits steht mittlerweile eine Studie von Wissenschaftlern um den Virologen Christian Drosten von der Berliner Charité. Im April 2020 veröffentlichte das Team seine Arbeit zur Viruslast verschiedener Altersgruppen auf einem Preprint-Server. Einer der zentralen Punkte: Infizierte Kinder weisen laut der Analyse ähnlich viele Sars-CoV-2-Viren im Rachen auf wie Erwachsene. Sie könnten damit genauso ansteckend sein wie diese. Könnten

Seitdem dauert die Debatte darüber an. Wegen des extrem hohen öffentlichen Interesses hat sie längst akademische Zirkel verlassen und die Boulevardpresse erreicht. Am 25. Mai gipfelte das Ganze darin, dass die »Bild«-Zeitung titelte, Drostens Studie sei »grob falsch« und ob dem die deutsche Schulpolitik »zum Opfer« falle. Der Chefredakteur Julian Reichelt legte auf »Twitter« nach und warf Drosten eine »falsche Studie« vor. Angeblich haben sogar schon an der Studie beteiligte Wissenschaftler intern die Fehler eingestanden, doch Belege dafür werden nicht geliefert.

Tatsächlich beantwortet die Studie nicht, welche Rolle Kinder am gesamten Infektionsgeschehen spielen. Das soll und kann sie auch nicht, wie Drosten und Kollegen von Beginn an deutlich mitgeteilt haben. Dazu müssten nämlich begleitende epidemiologische Daten gesammelt und analysiert werden, was der »Bild«-Artikel allerdings nicht erwähnt. Das Stück und die flankierenden Tweets lassen vielmehr vermuten, dass weder Reichelt noch der Autor Filipp Piatov verstanden haben, wie Wissenschaft funktioniert und ab wann eine Studie überhaupt als »falsch« gilt.

Die Wissenschaftler hatten die Studie vor der offiziellen Veröffentlichung in einem Fachjournal auf einen Preprint-Server hochgeladen. Das Ziel war es, angesichts der Pandemie Kolleginnen und Kollegen rasch Zugang zu den Auswertungen zu geben und darüber diskutieren zu können, um mögliche Schwachstellen der Studie zu erkennen und die Analyse im Nachgang zu verbessern – was seitdem reichlich geschieht. Vor allem der Teilaspekt der kindlichen Viruslast und ihrer statistischen Signifikanz wird debattiert, zum Teil sogar in der relativ breiten Öffentlichkeit auf Twitter (woher Piatov seine Kronzeugen wider Willen für seine These zieht).

Wie es sich für gute wissenschaftliche Praxis gehören sollte, gehen Drosten und sein Team auf diese fachliche Kritik ein und berücksichtigen sie. Einer der kritisierenden Statistiker wird mittlerweile als weiterer Koautor der Studie gelistet. Seine Ansätze hätten die Arbeit »härter« und fundierter gemacht, berichtet Drosten in seinem NDR-Podcast: Symptomfreie, aber infizierte Kinder wiesen demnach eine signifikant hohe Virenbelastung auf, tatsächlich erkrankte und klinisch behandelte Kinder hingegen eine deutlich geringere. Auf die erste Gruppe käme es im Infektionsgeschehen allerdings an. In Piatovs Artikel findet sich dazu nichts. Kein Virologe hat bislang die medizinischen Aspekte und damit den Hauptteil der Studie bezweifelt.

Sicherlich lassen sich Christian Drostens Arbeit und Auftreten kritisieren, etwa wenn er zu schnell und ohne besondere Einordnung seine Ergebnisse verkürzt auf Twitter verkündet und damit eventuell politische Entscheidungen beeinflusst. Oder wenn er sich auf sozialen Medien einen Kleinkrieg mit anderen Wissenschaftlern liefert. Prinzipiell entspricht sein Vorgehen und das seines Teams aber dem, was man von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern erwarten würde und wie es täglich zehntausendfach geschieht. Wissenschaftlicher Fortschritt basiert auf dem aufgeschlossenen Austausch kompetenter Fachleute. Das lässt sich auch für die Boulevardpresse nicht abkürzen.

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