Star-Bugs – die kleine-Tiere-Kolumne: Lebende Fossilien mit Persönlichkeit
Benedikt Kästle nahm 2022 an einer Exkursion zu einer Schlossruine in Blaubeuren teil. Es war eine milde Herbstnacht im Oktober, die Studierenden suchten nach Tieren, die es dunkel mögen. Kästle fand eine Assel. »Ich konnte die Art erst gar nicht zuordnen«, erinnert er sich. Erst eine genauere Untersuchung brachte Gewissheit: Porcellio montanus – eine seltene Asselart und ein Erstnachweis für diese Region in Baden-Württemberg.
Kästle studiert in Tübingen Ur- und Frühgeschichte sowie Paläoanthropologie, seine Studienkollegin Stephanie Binder Geografie. Beide hat 2019 die Asselfaszination gepackt. »Ich wollte mir ein kleines Ökosystem im Glas zusammenstellen«, erzählt Binder. Dafür sammelte sie im Garten Erde, Moos, abgestorbene Pflanzen, Holzstückchen – und Asseln. Binder lacht: »So hat es angefangen.«
Inzwischen nimmt das Hobby einigen Raum in den Wohnungen der beiden ein. In bis zu 50 Boxen halten und züchten die Studierenden heimische und exotische Landasselarten. Immer wieder ziehen sie los und suchen nach neuen Arten. Wobei »neu« relativ ist: »In Deutschland sind alle Arten so weit beschrieben«, sagt Kästle. Es gehe vielmehr darum, Arten in bestimmten Regionen nachzuweisen – so wie Porcellio montanus.
Asseln sind Krebstiere mit Persönlichkeit
Binder und Kästle eint die Faszination für die Krebstiere. Sie berichten, dass sie Tiere sogar am Verhalten unterscheiden können. Einige seien neugierig, bisweilen sogar forsch, andere versteckten sich lieber. Asseln haben Persönlichkeit, sagen sie. Das fanden auch tschechische Forschende heraus. Sie beobachteten, wie einzelne Kellerasseln auf Berührungen reagierten. Je nach Charakter blieben Individuen kürzer oder länger in asseltypischer Schreckstarre.
In Deutschland existieren rund 50 Asselarten. Die bekannteste ist sicherlich die Kellerassel (Porcellio scaber). Ihr einfarbig hell- oder schiefergrauer Körper wird bis zu zwei Zentimeter lang und besteht größtenteils aus einem längsovalen, gewölbten Rückenschild aus Chitin und Kalk. Der sieht aus, als hätte jemand Noppenfolie darauf verlegt. »Gekörnt« nennen Fachleute eine solche Struktur. Unter dem Schild lugen seitlich sieben Laufbeinpaare hervor. Am Kopf finden sich zwei kleine Augen, die aussehen wie Brombeeren, sowie zwei Antennen. Am anderen Ende tragen Kellerasseln zwei kurze Segmente.
Das unterscheidet sie von ihren Verwandten, den Mauerasseln (Oniscus asellus), denn deren Antennen haben drei Endsegmente. Den dunkelbraun glänzenden Rückenschild der Mauerasseln zieren oft gelbe Flecken. Auch Mauerasseln werden maximal zwei Zentimeter lang.
Aus dem Meer ans Land
Beide Arten kommen in Deutschland häufig vor. Ihre Vorfahren lebten jedoch in Meeren, Seen und Flüssen – und viele ihrer Verwandten tun es bis heute. Landasseln (Oniscidea) wie Mauer- und Kellerasseln schafften hingegen während der Kreidezeit den Sprung aufs Trockene. Im Gegensatz zu beispielsweise Amphibien leben sie dauerhaft an Land, pflanzen sich sogar außerhalb des Wassers fort. Dafür haben die Landasseln Strategien entwickelt.
Die hinteren Extremitäten etwa, die die aquatische Verwandtschaft zum Schwimmen nutzt, sind bei ihnen zu Spaltbeinen (oder Pleopoden) umgebaut. Diese Platten schützen die empfindlichen Atemorgane der Krebstiere. Denn auch wenn sie bereits vor mehr als 70 Millionen Jahren das Wasser verließen, ihre Kiemen haben sie behalten. Und die müssen ständig mit einem Flüssigkeitsfilm bedeckt sein, damit die Asseln atmen können.
Rote Liste der Binnenasseln Deutschlands
Im Jahr 2024 veröffentlichten das Bundesamt für Naturschutz (BfN) und das Rote-Liste-Zentrum (RLZ) eine aktualisierte Rote Liste. In ihr bewerten Experten 49 der 58 in Deutschland bekannten Binnenasselarten – also Landasseln und solchen, die in Seen und Flüssen leben. Insgesamt schätzen die Verantwortlichen die Asselbestände als stabil ein. Fast 60 Prozent (konkret: 29 Arten) gelten als ungefährdet, wie Mauer- und Kellerassel. Als bestandsgefährdet stufen sie fünf Arten ein; davon ist die Höhlenassel (Proasellus cavaticus) vom Aussterben bedroht. Proasellus nolli, die einzige Art, die in Deutschland in stehenden Gewässern lebte, gilt als ausgestorben oder verschollen.
Einige Arten wie die Kellerasseln haben zusätzlich lungenähnliche Organe entwickelt, so genannte Pseudotracheen. Diese Einstülpungen sitzen an den umgeformten Schwimmbeinen, nehmen Luft auf und versorgen so den Körper mit Sauerstoff. Asseln mit Pseudotracheen können daher trockenere Standorte besiedeln.
Außergewöhnlich ist auch die Brutpflege. Asselweibchen tragen ihre Eier – bei Kellerasseln bis zu 90 – in einer feuchten Brusttasche mit sich herum, dem Marsupium. Dort schlüpfen die Larven und bleiben weitere ein bis zwei Monate im mütterlichen Miniaquarium, bis sie sich in die Welt hinauswagen. Junge Asseln sehen aus wie Miniaturausgaben ihrer Eltern, sind anfangs aber häufig noch farblos. Außerdem laufen Asseljunge zunächst auf nur zwölf Beinen durchs Leben. Erst nach mehreren Häutungen entwickelt sich das hintere, siebte Beinpaar. Bis die Asseln mit drei Monaten geschlechtsreif sind, haben sie sich bis zu 15-mal gehäutet. Anders als zum Beispiel Insekten wachsen sie und häuten sich ein Leben lang.
Diese Resteverwerter lieben es feucht
Mit diesen Taktiken haben sich die ehemaligen Wasserbewohner auf allen Kontinenten ausgebreitet. »Asseln sind die einzigen Krebstiere, die sogar Wüsten erobert haben«, sagt Benedikt Kästle. Die Wüstenassel Hemilepistus reaumuri zum Beispiel bevölkert Steppen und Wüsten in Nordafrika und dem Mittleren Osten. Doch mehrheitlich ist es den Krebstieren zu trocken, wo der Mensch lebt. Verirren sich Keller- und Mauerasseln mal ins Haus, ist das eher ein Versehen. In die Nähe der Menschen hingegen zieht es Landasseln durchaus. Synanthrop nennen Fachleute die Lebensweise, die Tiere und Pflanzen in menschliche Siedlungen treibt. Denn dort gibt es Schuppen mit feuchten Ecken: ein Paradies für die nachtaktiven Landasseln, die Sonne und Trockenheit meiden.
Im Gewächshaus oder Komposthaufen im Garten finden die Krebstiere zudem ihre Lieblingsspeise: Detritus, also verrottendes organisches Material. Ihre Vorliebe für altes Laub, tote Insekten, Pilze, angeschlagene Äpfel oder moderndes Holz macht Landasseln zu wichtigen Verwertern in ihren Lebensräumen. Sie zersetzen Unverdauliches und machen es so für andere Organismen verfügbar.
Ihrem Namen zum Trotz leben die meisten Mauer- und Kellerasseln allerdings in feuchten Laubwäldern, wo sie den Tag in der Streuschicht, unter Steinen und morschem Holz sowie in Ritzen und Spalten verbringen. Erst am Abend kommen sie aus ihren klammen Verstecken.
Für Menschen sind Asseln harmlos, sie stechen nicht, sie beißen nicht, und sie übertragen keinerlei Krankheiten. Trotzdem sind sie nicht sehr beliebt: »Vielleicht, weil sie Schaben ähnlich sehen«, vermutet Benedikt Kästle. Um mehr Menschen zu zeigen, wie spannend – und schön – Asseln eigentlich sind, betreiben er und Stephanie Binder Instagram-Kanäle. Dort zeigen die beiden Makroaufnahmen und versorgen Interessierte mit spannendem Fachwissen. »Viele Leute sind überrascht, wie hübsch Asseln eigentlich sind, wenn man genauer hinschaut«, sagt Binder.
Außerdem erstellten die Studierenden einen Leitfaden, mit dessen Hilfe man die häufigsten Arten bestimmen und unterscheiden kann. Denn immer wieder fragten Menschen: »Schau mal, ich hab hier ’ne Assel gefunden, was ist denn das für eine?«, erzählt Kästle. Das Werk erschien als Ergänzung zur aktuellen Roten Liste der Binnenasseln. Und es zeigt: Landasseln sind vielfältig – und bisweilen sogar bunt. Definitiv aber faszinierend.
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