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Freistetters Formelwelt: Kepler, der Wein und die Kurven

Auch ein Weinfass kann wichtige mathematische Erkenntnisse bringen - zumindest wenn man frisch verheiratet ist und sich intensiv mit Kurven beschäftigt.
Ein leeres Weinfass mit offenem Spundloch steht halb beleuchtet auf sandigem Boden.

Bei meiner Arbeit als Astronom habe ich sehr oft mit Differenzialgleichungen zu tun. Das ist keine Überraschung, denn mein Spezialgebiet ist die Himmelsmechanik – also die Lehre von der Bewegung der Himmelskörper. Und wenn sich etwas bewegt, sind Differenziale und Integrale nicht weit. Eine Differenzialgleichung beschreibt die Veränderung einer Größe in Abhängigkeit von einer anderen, wenn diese sich verändert. Also zum Beispiel die unterschiedlichen Positionen und Geschwindigkeiten eines Planeten im Lauf der Zeit.

Die entsprechenden Gleichungen aufzustellen, ist meistens noch recht einfach. Will man sie aber lösen, um die Bewegung des Himmelskörpers auch direkt analysieren zu können, ist das im Allgemeinen nicht nur schwer, sondern oft sogar unmöglich. Viele komplexe Differenzialgleichungen – und ganz besonders diejenigen, die die Bewegung von astronomischen Objekten beschreiben – lassen sich nicht direkt lösen. Man muss auf numerische Näherungsverfahren zurückgreifen und Formeln wie diese hier:

Nehmen wir an, wir haben eine Funktion f(x) und möchten ihr Integral in Bezug auf x zwischen den Werten a und b bestimmen. Geometrisch betrachtet entspricht das der Fläche, die zwischen x = a und x = b unter der durch die Funktion f(x) definierten Kurve liegt. Lässt sich das Integral mit den üblichen Methoden nicht direkt berechnen, dann bietet die obige Formel eine Näherung.

Dabei wurde die Kurve f(x) durch eine Parabel P(x) approximiert, und das Integral der Funktion wird durch das exakt berechenbare Integral der Parabel angenähert, deren Funktion dazu an den Punkten a, b und m = (a + b) / 2 ausgewertet wird. Dieser Prozess liefert am Ende die oben angegebene Näherungsformel für das Integral S(f) der Funktion f(x).

Eine Formel mit drei Vätern und einem Fass

Benutzt hat diese Methode schon in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts der italienische Mathematiker Evangelista Torricelli; benannt wurde sie allerdings nach dem Engländer Thomas Simpson, der erst Anfang des 18. Jahrhunderts geboren wurde. Die »Simpsonregel« entspricht aber auch einer Formel, die der Mathematiker und Astronom Johannes Kepler schon 1615 aufgestellt hat.

Kepler lebte damals in Linz an der Donau und hatte 1613 zum zweiten Mal geheiratet. Und, wie er schrieb, es war »die Pflicht des neuen Gatten und sorglichen Familienvaters, für sein Haus den nötigen Trunk zu besorgen«. Also machte er sich daran, Weinfässer einzukaufen. Den Preis dafür bestimmte der Verkäufer durch eine Messung des Volumens der Fässer. Das geschah allerdings immer mit der gleichen Methode, unabhängig von der Form des Fasses. Eine Messlatte wurde durch das Spundloch in der Mitte des Behältnisses gesteckt, an der man das vermeintliche Volumen direkt ablesen konnte.

Kepler sah das kritisch: »Ich wunderte mich, dass die Querlinie durch die Fasshälfte ein Maß für den Inhalt abgeben könne, und bezweifelte die Richtigkeit der Methode, denn ein sehr niedriges Fass mit etwas breiteren Böden und daher sehr viel kleinerem Inhalt könnte dieselbe Visierlänge besitzen.« Und was tut ein Mann wie Kepler in so einem Fall? »Es schien mir als Neuvermähltem nicht unzweckmäßig, ein neues Prinzip mathematischer Arbeiten, nämlich die Genauigkeit dieser bequemen und allgemein wichtigen Bestimmung nach geometrischen Grundsätzen, zu erforschen und die etwa vorhandenen Gesetze ans Licht zu bringen.«

Was seine Frau von der Arbeit des »Neuvermählten« hielt und ob sie sich die Flitterwochen vielleicht anders vorgestellt hat, ist nicht überliefert. Wohl aber das Ergebnis von Keplers Bemühungen: das Werk »Nova Stereometria doliorum vinariorum« (»Neue Stereometrie der Weinfässer«), das 1615 erschien (und aus dem auch die Zitate stammen). Darin erklärte Kepler, wie man die Krümmung eines Fasses durch eine Parabel nähern und so sein Volumen wesentlich genauer berechnen kann. Ein echtes Genie findet eben auch in einem Weinfass noch neue Mathematik. Prost!

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