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Zeitdiagnosen: Klassenchat sperren und Gamen strikt verbieten? Eher nicht!

Auch Kinder denken über ihre Smartphone-Nutzung nach, schreibt unsere Kolumnistin Mirjam Oertli: vielleicht anders als Erwachsene, aber durchaus differenziert.
Smartphones und Kinder - kann das gut gehen?

»Am liebsten würde ich alles verbieten!«, seufzt eine Mutter an einem Infoabend über Kinder und neue Medien. Es ist ein junges Phänomen, vor dem die Gesellschaft, vor dem vor allem Eltern stehen: Das Smartphone ist allgegenwärtig – auch in Kinderhand.

Rund 50 Prozent der 6- bis 13-Jährigen besitzen gemäß Kim-Studie 2018 (Kindheit, Internet, Medien) ein eigenes Smartphone oder Handy. Bei den 12- bis 19-Jährigen sind es 95 Prozent, so die Jim-Studie 2019 (Jugend, Information, Medien). Fast alle also. Selbst wer (noch) keines hat, wird spätestens im frühen Jugendalter mit dem Gerätebesitz von Freunden und Freundinnen konfrontiert.

Im öffentlichen Diskurs dominieren erwachsene, oft normative Perspektiven: In den Medien machen Berichte von computerspielsüchtigen Neunjährigen die Runde. Auch die Forschung ist teils geprägt von einem auf Pathologien gerichteten Blick. Was aber haben Kinder selbst – kindheitssoziologisch als kompetente Akteure und Akteurinnen verstanden – zu sagen? Eine aktuelle Studie, für die ich offene Gruppengespräche mit Kindern geführt habe, zeigt: so einiges!

Zentral im familiären Beziehungsgefüge

Es geht um Autonomie, Teilhabe und technologischen Wandel. Und es geht um die Eltern. Das sind die großen Themen, die die jungen Gesprächsteilnehmer und -teilnehmerinnen in den Diskussionen über das Smartphone anschneiden.

»Zeitdiagnosen« ist ein Projekt in Kooperation mit dem Verlag Springer VS. In dieser Kolumne beziehen einmal im Monat wechselnde Experten und Expertinnen aus den Sozial-, Medien- und Politikwissenschaften Stellung zu aktuellen Debatten unserer Zeit.

Auffallend ist zunächst, wie viel Raum die Kinder in den Diskussionen zum Smartphone ihren Eltern einräumen: Manche Kinder beschweren sich über deren Kontrollen und lehnen sich auf. Andere fühlen sich eher unterstützt, auch beschützt, und kooperieren. Doch immer trifft zu: Das Gerät scheint einen zentralen Stellenwert im familiären Beziehungsgefüge zu haben, insbesondere im Hinblick darauf, wie die Kinder ihre Eltern wahrnehmen.

Große Bedeutung hat für die Kinder ebenfalls die Autonomie, die sie dank Smartphone erleben. Sie schätzen es, ihr Unterhaltungsprogramm selbst wählen zu können oder dass sie mit dem eigenen Gerät mehr Privatsphäre erleben. Und genauso wichtig ist die Tatsache, dass sie mit Smartphone eher allein in die Stadt oder zu Hobbys fahren können oder dürfen. Es ermöglicht ihnen zudem, sozial teilzuhaben. Neben logistischen Vorteilen bei der Vereinbarung von Treffen schildern die Kinder, wie sie via Handy mit den Gleichaltrigen verbunden bleiben. Das Smartphone erleben sie offenbar als eine Art Tor zur (digitalen) Welt. Sie gamen gemeinsam oder nehmen teil an Youtube-Trends und lassen sich für ihre Selbstdarstellung inspirieren.

Über Persönliches hinaus scheint das Smartphone die Kinder zu Gedanken über den technologischen Wandel anzuregen. Es dient ihnen als Aufhänger, um sich und ihre Kindheit in einem größeren Zusammenhang wahrzunehmen und eine Haltung zu gesellschaftlichen Fragen zu entwickeln.

Identitätsbildendes Hilfsmittel

Eltern, Autonomie, Teilhabe und Wandel: In diesem Spannungsfeld generationaler Ordnung, beginnender Eigenständigkeit und der Einbettung in größere Zusammenhänge bewegen sich die jungen Gesprächsteilnehmer und -teilnehmerinnen also. Dabei scheint ihnen das Smartphone als Hilfsmittel und Anregung für die mit solchen Themen verbundenen Herausforderungen zu dienen und letztlich auch identitätsbildend zu wirken.

Doch bleiben Gefahren und Schattenseiten, die das Gerät mit sich bringen kann, nicht unerwähnt: Informationsüberflutung und Werbung werden ebenso thematisiert wie gefährliche Trends im Netz, Sinn und Unsinn von Ballerspielen, überhöhte Schönheitsideale oder Beleidigungen und Mobbing. Hier erzählen Betroffene aber auch, wie sie Probleme eigenverantwortlich und kompetent lösten, indem sie aus Chats ausstiegen, Social-Media-Accounts löschten oder Hilfe von Eltern oder Lehrpersonen annahmen.

Ebenfalls zu den Schattenseiten zählen Gefühle des Ausgeschlossenseins. Sie schimmern bei Teilnehmern und Teilnehmerinnen durch, die kein Whatsapp nutzen oder ein angesagtes Game nicht spielen dürfen – oder, dies ist allerdings die klare Minderheit, kein Gerät besitzen. In allen Gesprächen kommt zudem die Suchtgefahr zur Sprache. Sie wird ernst genommen, und die Kinder zeigen sich informiert. Doch fordern sie das »Sucht-Framing«, das ebenfalls im öffentlichen Diskurs vorherrscht, immer wieder heraus, verweisen auf einen neuen Lifestyle beziehungsweise auf die neue Normalität der Smartphone-Nutzung. Sie scheinen sich durchaus in Selbstregulation zu üben – was sich in Schilderungen darüber ausdrückt, dass sie das Handy schon mal weglegen, eine Verabredung mit Freundinnen und Freunden vorziehen oder freiwillig aus Chats austreten. So zeigt sich insgesamt, dass die jungen Medienkonsumentinnen und -konsumenten ihre Smartphone-Nutzung differenziert betrachten und hinterfragen und sich nicht bloß als passive, dem Gerät ausgelieferte »User« verstehen.

Alte Ängste vor neuen Medien

Dass Mobiltelefone mit Autonomie und Teilhabe verknüpft werden, wurde schon für Teenager beschrieben. Inzwischen sind Smartphone-Besitzerinnen und -Besitzer jünger geworden, und auch 10- bis 12-Jährige scheinen dieses Potenzial zu entdecken. Das führt zur Frage: Läutet der kindliche Smartphone-Besitz früher die Adoleszenz ein? Stimmt die These des Medienwissenschaftlers Neil Postman, dass Medien dazu beitragen, Kindheit verschwinden zu lassen?

Zwar scheint das Gerät für die Gesprächsteilnehmer und -teilnehmerinnen mit Autonomie und Teilhabe verknüpft. Offen bleibt aber, ob es nur zur Manifestation dieser altersbedingt so oder so langsam zu erwartenden Themen dient oder ob es solche Bedürfnisse früher auslöst. Für die Kindheitssoziologie ist Kindheit stets konstruiert und veränderlich. Vor dieser Annahme sind Veränderungen durch das Smartphone anzunehmen. Sie zweifelsfrei als Kindheitsverkürzung zu verstehen und allein dem Gerät zuzuschreiben, würde der Komplexität der Sache aber kaum gerecht. Ausführlichkeit und Art, wie die Eltern in den Gesprächen thematisiert werden, spricht zudem dafür, dass das Handy bestätigend auf die generationale Ordnung wirkt. Es bestätigt Kinder also in ihrem Kindsein und Erwachsene in ihrem Erwachsensein und, damit verbunden, entsprechende Hierarchien.

Fragen ließe sich auch: Machen heutige Kinder gerade historisch einmalige Erfahrungen? Davon sei oft die Rede, so Leslie Haddon, Lehrbeauftragter des Departement of Media and Communications der London School of Economics und langjähriger Forscher im Bereich Kinder und neue Medien. Es sei aber wichtig, zu erkennen, dass mobile Medien graduell auftauchten – man denke an tragbare Radios, Walkmans, Laptops, Mobiltelefone und deren laufend erweiterte Fähigkeiten – und dass sich entsprechende Praktiken über Generationen entwickelten und stets mit Eltern verhandelt wurden. Gesellschaftliche Ängste vor neuen Medien sind nicht neu. Goethes Roman »Die Leiden des jungen Werther«, der für eine Suizidwelle verantwortlich gemacht wurde, ist nur ein Beispiel. Auch als Walkmans aufkamen, warnten Soziologen vor Vereinsamung, Ärzte vor Gehörschäden. Und an die Diskussionen um angemessenen TV-Konsum erinnern sich heutige Erwachsene vielleicht noch selbst.

Besseres Verständnis heutigen Aufwachsens

Ein Blick auf die medialen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte hilft teils dabei, Ängste zu relativieren und das Thema in einen übergeordneten Zusammenhang einzuordnen. Dass die Digitalisierung klare Vorteile mit sich bringt, machen aktuellste Entwicklungen deutlich: Wohl nur dank der medialen Kompetenz und Ausstattung der Kinder und Jugendlichen konnte der Schulunterricht während der coronabedingten Schulschließungen zumindest teilweise digital fortgesetzt werden. Nicht vergessen sollte man dabei auch die Vorteile der virtuellen Vernetzung mit Freundinnen und Freunden und Verwandtschaft in Zeiten, in denen persönliche Treffen nicht möglich sind. Das alles macht die Chancen, aber auch die Unvermeidlichkeit der digitalen Vernetzung von Kindern – sowie ihren Akteurstatus – sichtbar.

Diskussionslos ist: Die allzeit mobile Verfügbarkeit heutiger Geräte und ihre Einbettung in den gesamten Alltag bleiben herausfordernd – und es ist unverzichtbar, dass wir dabei unseren Fokus auf Risiken und Gefahren richten. Daneben die Perspektiven der Kinder in den Blick zu nehmen, trägt jedoch zum besseren Verständnis heutiger Kindheit und heutigen Aufwachsens bei.

Und um noch einmal auf die eingangs zitierte Mutter zurückzukommen: einfach alles strikt verbieten? Möglich wäre das vielleicht, wenn auch schwierig. Aber auf Dauer machbar und zielführend? Vielleicht eher nicht.

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