Hemmer und Meßner erzählen: Kleine Geschichte der Evolutionslehre, die nicht nur Darwin einfiel
Es war ein denkwürdiger Abend, der am 1. Juli 1858 bei der Linnean Society in London stattfand. Zwei Naturforscher stellten ihre wissenschaftlichen Thesen vor, die kurze Zeit später die Welt verändern sollten: die moderne Evolutionsbiologie. Allerdings glänzten beide Protagonisten mit Abwesenheit, ihre Studien wurden vorgelesen und überhaupt stellte sich der Vortragsabend als »a delicate arrangement« heraus, als heikles Arrangement. So bezeichnete der US-Journalist Arnold C. Brackman in den 1980er Jahren rückblickend die Ereignisse. Denn es ging darum, dass Charles Darwin (1809–1882) der Erste sein sollte, der die Frage zur Entstehung der Arten löste und seine Erklärung publizierte.
Wenige Wochen zuvor hatte Darwin Post aus Übersee erhalten. Der Naturforscher Alfred Russel Wallace (1823–1913) befand sich gerade auf den Molukken im heutigen Indonesien. Er schickte ein Manuskript nach England, in dem er auf ungefähr 20 Seiten darlegte, welches Prinzip hinter dem Wandel der Arten stecken würde. Seit Jahren beschäftigte ihn die Frage, doch nun nach vielen Expeditionen hatte Wallace die entscheidende Idee, just als er an Malaria erkrankt einen Fieberschub durchmachte.
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Seinen Text, der heute als Ternate-Manuskript bekannt ist, sendete er per Postdampfer an Darwin, weil sich der Forscherkollege schon seit vielen Jahren mit der Artenfrage beschäftigte. Die beiden Naturgelehrten standen seit einiger Zeit in einem losen Briefwechsel. Was Wallace nicht ahnte: Darwin hatte bereits eine Lösung parat, doch die lag seit vielen Jahren in der Schublade; Darwin war noch nicht bereit, sie zu veröffentlichen. Und seine Erklärung lautete: natürliche Selektion.
Darwin befürchtete, als Plagiator zu gelten
Damit beschrieb Darwin den wichtigsten Baustein der Evolution. Er kam zu der Erkenntnis, dass es eine natürliche Schwankungsbreite in der Ausprägung von Eigenschaften gibt und dass die Individuen, die am besten an ihre Lebensbedingungen angepasst sind, überleben und mehr Nachkommen zeugen. Nachdem er das Manuskript von Wallace gelesen hatte, war Darwin geschockt. »Niemals habe ich eine verblüffendere Übereinstimmung gesehen. Wenn Wallace meinen Entwurf aus dem Jahre 1842 vor sich hätte, wäre ihm kein besserer kurzer Auszug daraus gelungen«, klagte er und hatte Sorge, mit seiner Lösung zur Artenfrage nur mehr als Plagiator zu gelten.
Zwei seiner Freunde, die Forscher Charles Lyell (1797–1875) und Joseph Dalton Hooker (1817–1911), halfen Darwin. Sie organisierten einen Vortragsabend bei der Linnean Society, bei dem Auszüge aus Darwins Arbeit zur Artenfrage und das Ternate-Manuskript von Wallace vorgestellt wurden.
Vom Insektensammler zum Naturforscher
Am anderen Ende der Welt ahnte Wallace nichts von all der Aufregung um seinen Text. Er befand sich gerade mitten auf einer Expedition der Superlative: Acht Jahre lang, zwischen 1854 und 1862, sollte er auf der Inselwelt des Malaiischen Archipels unterwegs sein. In dieser Zeit verschiffte er über 100 000 Tierpräparate nach Europa, so viele wie kaum jemand vor ihm. Und dann eines Tages entdeckte er im Fieberwahn den Mechanismus der Evolution – ein zweites Mal unabhängig von Darwin.
Wallace hatte seine Expeditionskarriere nicht als Naturforscher begonnen. Er war naturkundlicher Autodidakt, musste seine Schulausbildung abbrechen, um Geld zu verdienen, und arbeitete schließlich als Landvermesser. Durch einen Freund wurde er zum leidenschaftlichen Insektensammler. Dabei lernte er die biologische Vielfalt kennen. Nachdem seine Sammlung mit heimischen Arten bereits gut gefüllt war, zog es ihn in die Ferne. Seine erste Station war der Amazonas, den er aus den Reiseberichten von Alexander von Humboldt oder auch Charles Darwin kannte. Den Weg vom Sammler zum Forscher zeichnet der Evolutionsbiologe Matthias Glaubrecht in seiner Wallace-Biografie »Am Ende des Archipels« aus dem Jahr 2013 anschaulich nach.
Finanziert wurde die Expedition mit Insektenpräparaten, die Wallace an Museen, andere Naturforscher oder Privatsammler verkaufte. Dazu schickte er regelmäßig Kisten mit Tierpräparaten an Samuel Stevens, der als Naturalienhändler den Verkauf in Europa übernahm. Im Lauf der Jahre wurde Wallace immer mehr vom Sammler zum Forscher und er begann, theoretische Überlegungen anzustellen und wissenschaftliche Artikel zu verfassen.
Im Fieber entwickelte Wallace seine Evolutionstheorie
Als Wallace nach Europa zurückkehrte, geriet sein Schiff in Brand und sank mitten auf dem Ozean mit zahlreichen Tierpräparaten. Wallace überlebte knapp und kam 1852 wieder in London an – wo er sofort die nächste Expedition plante.
Bereits zwei Jahre später machte er sich auf zum anderen Ende der Welt, zu den Molukken, wo er im Fieber seinen genialen Einfall hatte, der Darwin aufschrecken ließ. Oder ihn vielleicht sogar inspirierte? Just in der Zeit, in der Wallaces Studie bei Darwin ankam, ergänzte er sein eigenes Manuskript um etwa 40 Seiten. Zwar haben Forschende vielfach versucht, die Postlaufzeiten zu rekonstruieren, aber letztlich ist nicht sicher, ob Darwin das Ternate-Manuskript zu dem Zeitpunkt schon in Händen hielt.
Ein außergewöhnlicher Vortragsabend rettete Darwin
Lyell und Hooker entwickelten nun jedenfalls den Plan, das Manuskript von Wallace bei der Linnean Society gemeinsam mit einem Auszug aus Darwins Arbeit vorzustellen und dann unter einem gemeinsamen Titel zu publizieren. Jetzt konnte niemand mehr behaupten, Wallace hätte als Erster eine Lösung zur Artenfrage präsentiert.
Eigentlich schrieb Darwin gerade an einem anderen Buch, arbeitete jetzt aber, aufgeschreckt durch Wallace, unermüdlich an der großen Publikation zur Entstehung der Arten. Am 24. November 1859 war es so weit, eines der bekanntesten und wichtigsten Bücher der Wissenschaftsgeschichte wurde veröffentlicht: »On the Origin of Species by Means of Natural Selection«. Das Buch erreichte Wallace, als er immer noch auf den Molukken unterwegs war. Voller Bewunderung gratulierte er Darwin, damit die Naturforschung revolutioniert zu haben.
Wallace kehrte 1862 zurück und blieb bis zu seinem Tod extrem produktiv: Als er 1913 starb, waren 747 Aufsätze von ihm erschienen. Allerdings entfernte er sich im Lauf der Jahre immer mehr von der Wissenschaft. Schließlich wurde er ein bekannter Vertreter des Spiritismus. Seine Faszination für mentale Phänomene wie Trance oder Hypnose führten dazu, dass er die Evolutionstheorie später an entscheidender Stelle ablehnte: Wallace behauptete, dass die natürliche Selektion zwar für die gesamte Natur gelten würde, nicht aber für das menschliche Gehirn und das Denken. Darwin ärgerte sich über diesen Sinneswandel, verhalf aber dem chronisch unterfinanzierten Wallace trotzdem zu einer jährlichen Rente, die sein Auskommen sicherte.
Wallace erhielt zeit seines Lebens einige Ehrungen, unter anderem die Darwin-Medaille, die erstmals 1890 von der Royal Society in London vergeben wurde. Die Auszeichnung bekam Wallace, weil er unabhängig von Darwin die Artenfrage gelöst hatte. Zwar verbinden heute die meisten Menschen die Evolutionstheorie mit dem Namen Charles Darwin, doch Wallace hatte dieselben Schlüsse gezogen. Er war mehr als nur der Forscher, der dafür sorgte, dass Darwin seine Theorien schließlich publizierte.
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