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Hemmer und Meßner erzählen: Kleine Geschichte einer Geisterarmee im Zweiten Weltkrieg

Tricksen, täuschen, verschleiern – ein US-Militärverband im Zweiten Weltkrieg entwickelte Attrappen, um die Wehrmacht irrezuführen. Mit Erfolg, wie unsere Kolumnisten erzählen.
Echter Panzer links und einer aus Gummi rechts im Jahr 1945.
Zwei Panzer – ein echtes Modell des Zweiten Weltkriegs links und eine aufblasbare Gummiattrappe rechts im Jahr 1945. Die US-Armee hob einen eigenen Verband aus, die »Ghost Army«, die sich einzig um Täuschungsmanöver kümmerte.

»Jede Armee führt Täuschungen durch«, sagte einmal der US-General Wesley Clark, ehemaliger alliierter Oberkommandierender der NATO. »Wenn sie es nicht tut, kann sie nicht gewinnen und das weiß sie.« Die Geschichte der Kriegsführung gibt Clark Recht. Schon in der Antike ließ Hannibal Ochsen mit Fackeln bestücken und einen Bergpass entlangtrotten, während er mit seinen Soldaten eine andere Route nahm. Oder Cäsar: Er ließ die Lager seiner Legionen gern klein anlegen, um den Eindruck zu vermitteln, seine Streitkraft sei geringer, als sie es tatsächlich war. Dass allerdings ein ganzer Militärverband gegründet wurde, nur um den Feind zu verwirren, das geschah erstmals im Zweiten Weltkrieg.

Die Idee dazu hatte Ralph Ingersoll (1900–1985). Eigentlich renommierter Journalist, war er Ende 1943 mit der US-Armee in London stationiert gewesen und bekam dort hautnah mit, wie Zeitpunkt und Ort der Landung der Alliierten in der Normandie verschleiert werden sollten. Tricksereien wie aufblasbare Boote oder fingierte Funksprüche sollten die Wehrmacht in die Irre führen. Ingersoll dachte jedoch größer: Was, wenn ein eigener Militärverband nicht nur Attrappen produzieren, sondern gleich die Existenz einer oder sogar zweier Divisionen vortäuschen könnte?

Die beiden Historiker Richard Hemmer und Daniel Meßner bringen jede Woche »Geschichten aus der Geschichte« in ihrem gleichnamigen Podcast. Auch auf »Spektrum.de« blicken sie mit ihrer Kolumne in die Vergangenheit und erhellen, warum die Dinge heute so sind, wie sie sind.
Alle bisherigen Artikel der Kolumne »Hemmer und Meßner erzählen« gibt es hier.

Ingersoll trug die Idee seinem Vorgesetzten Colonel Billy Harris vor und gemeinsam überzeugten sie General Jake Devers, den ranghöchsten Kommandanten der US-Armee in Europa. Devers schickte schließlich am Weihnachtsabend des Jahres 1943 ein Telegramm nach Washington, um dem Präsidenten den Plan darzulegen. Wenige Wochen später, am 20. Januar 1944, wurde dieser in die Tat umgesetzt.

Eine Geisterarmee, die mit 1100 Mann 30 000 Soldaten imitierte

Es entstand ein neuer Militärverband mit dem Namen »23rd Headquarters, Special Troops« – bald schon hieß er inoffiziell nur die »Ghost Army«. Er bestand aus insgesamt 1100 Mann, die mit diversen Hilfsmitteln den Eindruck erwecken sollten, ihre Division würde bis zu 30 000 Mann umfassen.

Die Spezialtruppe setzte sich aus vier verschiedenen Abteilungen zusammen. Die größte mit 296 Mann war die 603rd Engineer Camouflage Battalion Special. Sie existierte eigentlich schon seit Anfang der 1940er Jahre, war für die Tarnung zuständig und umfasste die wohl ungewöhnlichsten Mitglieder der US-Armee – Künstler, Architekten, Illustratoren, Bildhauer und sonstige Kreativschaffende.

Dazu gehörten einige Männer, die später auf ihrem Gebiet Berühmtheit erlangen sollten: der Bildhauer und Maler Ellsworth Kelly (1923–2015), der bekannte amerikanische Modedesigner der 1960er und 1970er Jahre Bill Blass (1922–2002) und Arthur B. Singer (1917–1990), der später mit seinen Landschaftsbildern berühmt wurde. Im Krieg waren sie dafür zuständig, den visuellen Part der Täuschungen durchzuführen. Zu ihrem beeindruckenden Vermächtnis zählen aufblasbare Attrappen von Panzern, Artillerie, Jeeps und sogar Soldaten. »My con artists« – »meine Trickbetrüger« – nannte Ingersoll diese Abteilung später einmal.

Ebenfalls Teil des neuen Militärverbands waren die 3132 Signal Service Company und die Signal Company Special. Die 145 Mann des Signal Service sollten die passende Geräuschkulisse schaffen. Ausgestattet mit modernster Aufnahmetechnik und riesigen Lautsprechern simulierten sie den Lärm ganzer Divisionen. Die Signal Company Special war für die Kommunikation zuständig. Sie fingierten Funksprüche. Zum Schutz und zum Aufbau der Attrappen standen den Männern noch erfahrene Soldaten zur Seite.

Die »Ghost Army« und ihre ersten Einsätze in Europa

Nach drei Monaten Training wurde der Verband schließlich im April 1944 nach Europa verlegt. Nachdem die Landung der Amerikaner in der Normandie am 6. Juni geglückt war, schickte man die Männer zu ihren ersten Missionen aufs europäische Festland. Viele von ihnen, die den Krieg bisher nur über Nachrichtensendungen und Zeitungsartikel kannten, waren schockiert. Viel Zeit blieb ihnen jedoch nicht, sich an das Geschehen zu gewöhnen, da sie immer häufiger zu Einsätzen herangezogen wurden.

So am 15. September 1944, als sie General George S. Patton (1885–1945) und seine 3. Armee dabei unterstützten, die Stadt Metz einzunehmen. Patton hatte ein Problem: Die Linie der Alliierten verlief nicht lückenlos, weil eine Division verspätet war. Nun sollte die »Ghost Army« diese Lücke stopfen. Zum ersten Mal kamen dabei ihre aufblasbaren Panzer zum Einsatz, mit denen die Spezialisten zwei Brigaden und ein Hauptquartier simulierten. Die Lärmabteilung beschallte aus riesigen Lautsprechern die Gegend mit Panzergeräuschen und die Funker imitierten den Funkverkehr, um der Wehrmacht den Eindruck zu vermitteln: Hier passiert was! Überdies wurden Schilder gemalt, Embleme auf Fahrzeuge geklebt und – um die Illusion perfekt zu machen – mit Bulldozern die Spuren von Panzerketten in den Boden gedrückt.

Der Plan ging auf: Die Wehrmacht – nicht wissend, dass die Linie der Alliierten nicht durchgängig verlief – griff nicht an. Nach sieben Tagen traf dann endlich die fehlende Division ein, um die »Ghost Army« abzulösen.

Das große Finale am Rhein

Im Lauf des nächsten halben Jahres unternahm die »Ghost Army« immer wieder kleinere Kampagnen. Artillerieattrappen hier, vorgetäuschte Hauptquartiere dort. Der große finale Einsatz kam schließlich im März 1945: Die Alliierten wollten mit der 21. Heeresgruppe, einem Großverband unter britischem Oberkommando, den Rhein überqueren. Die Aktion erhielt den Codenamen »Plunder«, war aber in Unteraktionen aufgeteilt. Eine davon oblag der »Ghost Army«. Sie sollte gemeinsam mit der 9. US-Armee den Zeitpunkt der Querung verschleiern. Es sollte der Eindruck entstehen, dass die Alliierten frühestens ab dem 1. April zur Rheinüberquerung in der Lage seien.

Gummiboot | Die »Ghost Army« hatte im Zweiten Weltkrieg dieses aufblasbare Pseudoboot entwickelt, um die Deutschen zu täuschen.

Der zweite Teil der Mission mit dem Codenamen »Viersen« sollte den Ort der Querung verschleiern. Dafür wurden alle Register gezogen: Die Camouflageexperten zündeten am Rhein bei Krefeld Nebelgranaten, um vorzutäuschen, man wolle Truppenbewegungen vortäuschen – es war eine doppelte List. Dann wurden falsche Nachschubstandorte, Hauptquartiere, Flugzeugabwehrkanonen und Flugfelder angelegt. In der Nähe von Anrath und Dülken positionierte der Verband über 200 aufblasbare Vehikel in Höfen, Wäldern und an Straßen. Auch die Geräuschabteilung arbeitete auf Hochtouren: Der Lärm manövrierender Panzer und LKWs schallte aus den Boxen, Baustellengeräusche sollten die Errichtung von Behelfsbrücken vortäuschen.

Als schließlich am 24. März die US-Armee mit zwei Divisionen 20 Kilometer nördlich den Rhein überquerte, war der Widerstand gering. Offenbar hatte die Wehrmacht den Übergang nicht an dieser Stelle erwartet.

Warum bis in die 1990er Jahre kaum etwas über die »Ghost Army« bekannt war

Diese Mission war die letzte große Aktion der »Ghost Army«. Bald nach der Kapitulation Deutschlands kehrten die Männer in die USA zurück. Es war zwar geplant, sie auch im Pazifikraum einzusetzen, doch dazu kam es nicht mehr. Mit dem Abwurf der beiden US-Atombomben über Hiroshima und Nagasaki sah sich Japan gezwungen zu kapitulieren. Wenig später entließ man die Spezialtruppe ins zivile Leben.

Die offizielle Geschichte der »Ghost Army« wurde erst Mitte der 1990er Jahre bekannt. Bis dahin waren die entsprechenden Akten unter Verschluss geblieben, vermutlich um den Verband während des Kalten Kriegs gegebenenfalls aktivieren zu können.

Was heute bleibt, ist die Frage, wie effektiv die »Ghost Army« agierte. Natürlich ist es schwierig, die Wirksamkeit einer Streitkraft zu bewerten, deren Ziel es war, unbemerkt zu bleiben. Dass sie nicht in den deutschen Lageberichten auftaucht, kann sowohl für ihren Erfolg als auch für ihre völlige Irrelevanz sprechen. Roy Eichhorn vom United States Army Combined Arms Center sagt dazu im Buch »The Ghost Army of World War II«: »Haben sie die Deutschen jedes Mal verblüfft? Wahrscheinlich nicht. Haben sie die Deutschen dazu gebracht, so zu reagieren, wie sie es wollten? Definitiv!«

Zumindest was den künstlerischen Output ihrer ehemaligen Mitglieder angeht, hat die »Ghost Army« bleibenden Eindruck hinterlassen. So meinte der Kunstkritiker Eugene C. Goossen (1920–1997) über das Werk von Ellsworth Kelly und seine Camouflagearbeit beim US-Militär: »Die Auseinandersetzung mit Form und Schatten, mit der Konstruktion und Zerstörung des Sichtbaren (…) sollte fast alles beeinflussen, was er einige Jahre später in Malerei und Bildhauerei geschaffen hat.«

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