Hemmer und Meßner erzählen: Kleine Geschichte der Pocken oder wie 22 Waisenkinder die Welt impften
Die Pocken, auch Blattern genannt, zählen zu den verheerendsten Krankheiten der Menschheitsgeschichte: Rund jeder Dritte, der sich mit dem Virus infizierte, fiel ihnen zum Opfer. Und jene, die überlebten, trugen Narben davon oder waren womöglich im Verlauf der Infektion blind geworden. Die Krankheit prägte über Jahrhunderte das Leben der Menschen so sehr, dass häufig Kinder erst dann als Familienmitglied gezählt wurden, wenn sie die Pocken überstanden hatten.
Heute ist das glücklicherweise nicht mehr so, und die Pocken spielen keine Rolle mehr: Im Jahr 1980 erklärte die Weltgesundheitsorganisation das Virus für ausgerottet. Es war das Ende eines sehr langen Wegs. Er begann – schon lange bevor man die erste »echte« Impfung gegen den Erreger einsetzen konnte oder gar verstanden hatte, wie Krankheiten überhaupt ausgelöst und übertragen werden – mit der Variolation: Bei den Pocken bilden infizierte Menschen Pusteln, in denen sich Flüssigkeit sammelt. Diese Flüssigkeit wurde bei einer abklingenden Pockenerkrankung entnommen und einer anderen Person auf eine Wunde am Arm gegeben, die so mit dem Virus infiziert wurde. Das führte zu einem Krankheitsverlauf, der seltener tödlich endete.
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Doch den Durchbruch brachte erst die Impfung, die der englische Arzt Edward Jenner (1749-1823) in den 1790er Jahren entwickelte. Seine Methode ähnelte im Grunde der Variolation, mit dem entscheidenden Unterschied, dass er nicht die Sekrete pockenkranker Menschen, sondern die Flüssigkeit aus Pusteln am Euter pockenkranker Kühe verwendete. Jenner und andere vor ihm bemerkten, dass diese Infektion Menschen nur leicht erkranken ließ, ihnen aber im Gegenzug lebenslange Pockenimmunität bescherte.
Vor allem aber entdeckte der englische Arzt, dass sich diese Infektion von Mensch zu Mensch übertragen ließ: An der Stelle, an der die Flüssigkeit eingebracht worden war, entwickelten die Geimpften Pusteln – und in ihr sammelte sich die Flüssigkeit für weitere Impfungen.
Die Erfindung des Impfens
Jenner publiziert seine Studie zur Pockenimpfung im Sommer 1798, und bald darauf begannen die ersten Impfkampagnen. Erst in den 1930er Jahren stellte sich heraus, dass das Virus, das man dabei letztendlich von Arm zu Arm zu übertragen begann, gar nicht der Erreger der Kuhpocken war, sondern eine Variante davon, die nun Vacciniavirus heißt und deren Herkunft noch nicht vollständig geklärt ist. Der Kuh (lateinisch »vacca«) und ihrer speziellen Rolle in Jenners Impfversuchen wurde dennoch ein dauerhaftes Denkmal gesetzt: Ihnen verdanken Impfstoffe ihre alternative Bezeichnung Vakzinen.
Der Impfstoff enthielt aktive Viren und behielt seine Wirkung nur so lange, wie die Erreger infektiös blieben – ungefähr zehn Tage. Transportiert wurde er etwa, indem man Baumwolle mit der Flüssigkeit tränkte oder indem man sie zwischen zwei Glasplatten presste und mit Wachs versiegelte. Für Europa war das kein Problem, aber was war mit anderen Kontinenten? Eine Atlantiküberfahrt dauerte erheblich länger als zehn Tage, und in Amerika waren die Kuhpocken nicht verbreitet, weshalb der Lebendimpfstoff dort auch nicht hergestellt werden konnte.
Als es Ende des 18. Jahrhunderts in Südamerika zu einem großen Ausbruch der Pocken kam, reagierte der spanische König Karl IV., dessen Tochter einige Jahre zuvor an den Pocken gestorben war, und startete die »königliche philantropische Impfstoff-Expedition« (Real Expedición Filantrópica de la Vacuna). Die Idee der Expedition war es nicht, nur vor Ort die Menschen zu impfen, sondern, die Impfmöglichkeit dauerhaft sicherzustellen. Daher wollte man nicht bloß die Vakzine dorthin bringen, sondern es sollten auch vor Ort Personen ausgebildet und Impfzentren eingerichtet werden.
Ein Impfstoff geht um die Welt
Als Leiter der Expedition wurde der Arzt Francisco Javier de Balmis (1753-1819) ausgesucht. Für ihr drängendstes Problem – wie den Impfstoff über den Atlantik schaffen? – fand die »Balmis-Expedition« bald eine Lösung: Es sollte eine Gruppe ungeimpfter Personen an Bord genommen werden, zwei würde man jeweils mit dem Kuhpocken-Virus infizieren und von der Gruppe trennen. Nach Abklingen der Krankheit würde man ihnen Flüssigkeit aus den Pockenpusteln entnehmen und zwei weitere Personen infizieren. Und das immer so weiter, bis das Schiff nach Südamerika gelangt war. In 22 Waisenkindern aus Spanien fand die Balmis-Expedition ihre Kandidaten für die virale Menschenkette über den Atlantik.
Die Expedition startete am 30. November 1803 in La Coruña und brachte den Impfstoff erfolgreich nach Südamerika. Im heutigen Venezuela teilte sich die Gruppe. Balmis fuhr mit dem Schiff weiter nach Kuba (wo das britische Militär vermutlich bereits ebenfalls den Impfstoff eingeführt hatte) und von dort nach Mexiko. Er überquerte den Pazifik und brachte den Impfstoff schließlich bis nach China. 1806 kehrte er nach Spanien zurück. Der andere Teil der Expedition wurde vom Arzt Josep Salvany geleitet, der mit seiner Gruppe von Venezuela aus weiter ins Landesinnere zog, bis er 1810 im heutigen Bolivien starb.
Damit endete die erste große, kontinenteübergreifende Impfaktion der Geschichte. Fachleute vermuten, dass etwa 1,5 Millionen Menschen im Zuge der Balmis-Expedition geimpft wurden. Übrigens, in Erinnerung und Würdigung daran wurde die Militäraktion in Spanien zur Bekämpfung der Corona-Pandemie »Operación Balmis« getauft.
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