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Hemmer und Meßner erzählen: Kleine Geschichte der Seefrauen oder wie Männer den Fischfang kaperten

Thurídur Einarsdóttir zählte im Island des späten 18. Jahrhunderts zu den führenden Fischerinnen. Doch sie und ihresgleichen hielten das Ruder nicht lange in der Hand, wie unsere Kolumnisten Hemmer und Meßner erzählen.
Fischer und ihr Boot. Illustration.

Moment! Seejungfrauen sind Fabelwesen. Geht es in dieser Kolumne denn nicht um Geschichte?! – Doch, genau darum geht es. Um die Geschichte der isländischen Seefrauen. Auch wenn ihre Existenz ähnlich den Märchenfiguren wie ein Mythos klingt. Aber im Island des 18. Jahrhunderts fuhren viele Frauen beruflich zur See. Warum sie von den Schiffen und dann aus der Geschichte verschwanden, hatte mit der industriellen Revolution zu tun.

Aber alles der Reihe nach.

Wenn es ums Überleben geht, erweisen sich Rollenbilder als bemerkenswert flexibel. Egal ob Männer, Frauen oder Kinder, ob zur See oder zu Land: Für die arme Bevölkerung Islands stand körperliche Schwerstarbeit an der Tagesordnung. »Am Hof und auf dem Wasser war die Trennlinie nicht das Geschlecht, sondern wie hart du arbeiten konntest«, schreibt die isländische Historikerin Thórunn Magnúsdóttir – und so zitiert sie Margaret Willson von der University of Washington in Seattle in ihrem Buch »Seawoman of Iceland«, in dem die Ethnografin die Geschichte der isländischen Fischerinnen aufgearbeitet hat.

Die beiden Historiker Richard Hemmer und Daniel Meßner bringen jede Woche »Geschichten aus der Geschichte« in ihrem gleichnamigen Podcast. Auch auf »Spektrum.de« blicken sie mit ihrer Kolumne in die Vergangenheit und erhellen, warum die Dinge heute so sind, wie sie sind.
Alle bisherigen Artikel der Kolumne »Hemmer und Meßner erzählen« gibt es hier.

Eine, die definitiv hart arbeiten konnte, war Thurídur Einarsdóttir (1777–1863). Sie ist eine der am besten dokumentierten Seefrauen. Von ihrem Vater wurde sie mit elf Jahren zum ersten Mal mit aufs Meer genommen, um für den Unterhalt der Familie zu sorgen. Und obwohl die Familie durch Landbesitz privilegierter gewesen sein mag als andere, hatte sie es bestimmt nicht leicht – ähnlich wie viele Isländerinnen und Isländer jener Zeit.

Die Insel im Griff Dänemarks

Island gehörte im 18. Jahrhundert zu Dänemark. Erst 1918 errang die Bevölkerung eine größere Unabhängigkeit, 1944 wurde das Land eine unabhängige Republik. Bis dahin hatte Dänemark die Geschicke der Insel gesteuert, auch wirtschaftlich etwa durch ein bis 1787 gültiges Handelsmonopol: Alles, was nicht auf der Insel selbst produziert werden konnte, durften die Einwohner ausschließlich aus Dänemark importieren. Der Handel mit Schiffen aus anderen Ländern stand unter Strafe.

Die Isländer lebten hauptsächlich von der Heu-, Schaf- und Milchwirtschaft und hielten sich so am Existenzminimum. Sie waren Selbstversorger. Und die Fischerei war ein Bestandteil, um die Hofgemeinschaft zu ernähren. Durch die dänischen Regelungen blieb Island nicht nur über Jahrhunderte arm, sondern auch isoliert. Nur wenige konnten es sich leisten, in Kultur- und Handelszentren wie Kopenhagen zu reisen und Kontakt mit der restlichen Welt zu pflegen. Massive soziale Ungleichheit erschwerte jede Veränderung dieser tristen Situation.

Bis in die 1930er Jahre lebten die meisten Menschen auf Land, das ihnen nicht selbst gehörte. Besitzer waren die Kirche, dänische Eliten und einige wenige Bessergestellte. Der Großteil der Isländerinnen und Isländer kam so nie über den Status von Mägden und Knechten hinaus. Sie arbeiteten im so genannten »vistarband«, einem System aus dem 15. Jahrhundert, das jene ohne Landbesitz dazu verpflichtete, auf anderen Höfen Arbeit zu verrichten. Sie waren ortsgebunden, durften weder ohne Erlaubnis heiraten noch einen eigenen Haushalt führen. Ihr Anteil am Fischfang ging ebenfalls direkt an den Besitzer des Hofs.

Wie die Frauen ans Ruder kamen

In dieser Gesellschaft wuchs Thurídur Einarsdóttir auf. Sie fuhr schon als Kind zur See, mit acht anderen fischte sie in kleinen Ruderbooten per Langleine nach Kabeljau. Einarsdóttir war eine der wenigen Seefrauen, von denen Episoden ihres Lebens überliefert sind. Ein Schild auf ihrer rekonstruierten Fischerhütte in Stokkseyri erinnert an die 1777 geborene Kapitänin, die dafür berühmt war, reiche Fänge einzufahren, und in ihrer 60-jährigen Karriere kein einziges Mitglied ihrer Crew verlor.

Einarsdóttirs Fischhütte | Im volkskundlichen Museum in Stokkseyri wurde die Rekonstruktion einer Hütte aufgebaut, wie sie Thurídur Einarsdóttir (1777–1863) bewohnt haben soll.

Kinder und Jugendliche arbeiteten häufig an Bord der Fischkutter. Jede Arbeitskraft wurde gebraucht. Und wer nicht volljährig war, bekam einen geringeren Anteil am Fang. Nicht so Einarsdóttir: Sie tat sich mit ihrem Können offenbar so hervor, dass sie nicht nur den vollen Anteil eines Erwachsenen erhielt, sondern von ihrem Vater auch eigene Seekleidung. Nach dem Tod des Vaters wurde sie die Vorarbeiterin und somit die Kapitänin seines Boots. Bald koordinierte sie mehrere Schiffe zugleich.

Ein Gesetz von Friedrich IV. von Dänemark und Norwegen (1671–1730) schrieb 1720 vor, dass Männer und Frauen für das »Rudern« – so hieß das Fischen damals – gleichermaßen bezahlt werden müssen. Einarsdóttir hatte dieses Recht für sich eingeklagt, als ein Vorarbeiter ihrer Flotte sich weigerte, ihren Anteil vollständig auszuzahlen. Das Gericht urteilte, dass ihr Widersacher zur Strafe Geld an Bedürftige spenden und öffentlich erklären musste, falsch gehandelt zu haben.

Kapitänin, Detektivin, Reiseleiterin

Einarsdóttir war nicht nur als Fischerin angesehen. Sie zeichnete sich auch durch andere Fähigkeiten aus. Der dänische Statthalter bestimmte 1827, dass sie einen Diebstahl aufklären sollte, was ihr auch gelang. Beinahe wäre die Sache schiefgelaufen – weil sie vor der Amtsperson in Hosen erschien. Auf See trugen die Frauen aus ganz praktischen Gründen das Beinkleid, aber an Land war es verpönt. Doch nach erfolgreicher Verbrecherjagd sprach der Statthalter Einarsdóttir die offizielle Erlaubnis aus, Hosen auch an Land zu tragen.

Die Isländerin besaß noch weitere Talente. So war sie als Fremdenführerin tätig. Im Alter von 77 Jahren führte Thurídur Einarsdóttir die berühmte Wiener Schriftstellerin und Globetrotterin Ida Pfeiffer (1797–1858) durch ihr Land. Einarsdóttir war mit Sicherheit eine außergewöhnliche Persönlichkeit, aber bei Weitem nicht die einzige Frau auf dem Meer. Laut Margaret Willson waren vom 17. bis Anfang des 19. Jahrhunderts etwa 40 Prozent der Fischerinnen und Fischer Frauen. Danach ging der Anteil stark zurück. Was war passiert?

Warum die Seefrauen untergingen

Pfeiffer beschrieb Einarsdóttir als Frau von ungewöhnlich guter Gesundheit und Stärke für ihr Alter. Anders die Worte eines Historikers der 1970er Jahre: Er vermisste weibliche Anmut in den vermeintlich verhärmten Zügen der Fischerin – als »kerling« oder »Troll« erschien sie, wie die »Mannsweiber« auf See seit 1900 genannt wurden. Dieser Perspektivwandel war symptomatisch für die Geschlechterrollen der industriellen Revolution. Ein anderes Frauenbild hielt Einzug in Europa, auch in Island. Als sich der Mittelstand herausbildete, ging das mit einer neuen Arbeitsteilung einher, da die Erwerbsarbeit nun räumlich vom Zuhause getrennt war. In der Folge professionalisierte sich auch die Fischerei. Spätestens in den 1920ern war sie zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor Islands geworden. Immer mehr, größere und schnellere Boote sorgten für größere Ausbeute. Mit Dieselmotorbooten und großen Dampftrawlern fuhren die Fischer aus. Bald waren befestigte Häfen zum Ankern und Auslaufen nötig, ebenso musste der Fang dort rasch weiterverarbeitet werden. Demografische Veränderungen folgten: Während im Jahr 1860 nur drei Prozent der Bevölkerung in Städten lebten, waren es 1920 bereits 44 Prozent.

Gegen 1900 verschlechterte sich auch die Lage der Frauen in der Fischerei, weil diese in den Städten als Lohnarbeiterinnen tätig waren. Noch in den 1990er Jahren verdienten Frauen in den Fischfabriken 55 Prozent weniger als ihre männlichen Kollegen auf See. Thurídur Einarsdóttir hätte das vermutlich erstaunt. Sie wurde 86 Jahre alt und starb 1863, ohne mitzuerleben, wie ihresgleichen von den Fischereibooten und aus der Geschichte verdrängt wurde.

Seit den 2000er Jahren wandelt sich die weltweite Fischindustrie. Fangquoten machen das Fischen in kleineren Booten wieder attraktiver. Dadurch fahren auch mehr Frauen als Bootseigentümerinnen und Kapitäninnen zur See. Ist also wieder Land in Sicht?

Anm. der Redaktion: Wir hatten das Sterbealter von Thurídur Einarsdóttir mit über 90 Jahren angegeben. Korrekt sind aber 86 Jahre.

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