Hemmer und Meßner erzählen: Kleine Geschichte vom Raub des größten Dinosaurierskeletts
Noch heute gilt die Tendaguru-Expedition als eine der erfolgreichsten paläontologischen Grabungen. Der Hügel Tendaguru, in dem unzählige Dinosaurierfossilien verborgen lagen, befindet sich in Tansania im Osten Afrikas. Zwischen 1885 und 1918 gehörte das Gebiet zur Kolonie Deutsch-Ostafrika und stand als »Schutzgebiet« unter der Herrschaft des Deutschen Kaisers.
Wie kam es dazu, dass dort nach Dinosauriern gegraben wurde und deren Knochen nach Berlin gelangten? Im Detail kann diese Geschichte im Buch von Ina Heumann und ihren Kollegen nachgelesen werden, das unter dem Titel »Dinosaurierfragmente« erschienen ist. Zunächst hatte die Kolonialverwaltung, um das Gebiet für das Deutsche Reich zu erschließen, Lizenzen an diverse Gesellschaften verkauft. So ging 1904 auch eine Konzession für fünf Jahre an die Lindi-Schürfgesellschaft, die sich damit verpflichtete, jährlich mindestens 10 000 Mark in Schürfarbeiten nach Mineralen zu investieren. Die Gesellschaft war nach Lindi, einer Hafenstadt etwa 60 Kilometer vom Tendaguru entfernt, benannt worden.
Nach nur wenigen Jahren stand das Unternehmen jedoch kurz vor dem Aus. Und das hat mit einem der gewaltsamsten Kapitel der deutschen Kolonialgeschichte zu tun. In Deutsch-Ostafrika brach 1905 ein Kolonialkrieg aus, der Maji-Maji-Krieg. Die afrikanische Bevölkerung hatte sich zu einem Aufstand gegen die deutschen Besatzer zusammengeschlossen. Die Kolonialtruppen gingen äußerst brutal gegen die Widerstandsbewegung vor. Die Folgen des Krieges waren verheerend. Historiker gehen davon aus, dass ungefähr ein Drittel der Bevölkerung starb, durch Kriegshandlungen, an Hunger und durch die gezielte Vernichtung von Ernten und Saatgut.
225 Tonnen Fossilien werden nach Berlin verschifft
Die Ausrüstung der Lindi-Schürfgesellschaft wurde im Krieg zerstört. Zudem hatte das Unternehmen seit dem Erwerb der Lizenz noch keinen Gewinn erwirtschaftet. Sie ließ trotzdem weitergraben, um die Konzession nicht zu verlieren. Eines Tages im Jahr 1907 berichtete ein afrikanischer Arbeiter dem Betriebsleiter, man habe gewaltige Knochen gefunden. Die Gesellschaft informierte die Kolonialverwaltung im Deutschen Reich, die allerdings zurückhaltend reagierte. Es seien bestimmt nur Giraffen- oder Elefantenknochen, war der Tenor der Antwort. Dennoch schickte die Behörde sicherheitshalber den Paläontologen Eberhard Fraas (1862–1915) los. Er solle sich die Funde einmal anschauen.
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Der Weg zum Tendaguru war einigermaßen mühsam. Von Lindi aus dauerte es zu Fuß vier bis sechs Tage, um auf unbefestigten Wegen dorthin zu gelangen. Fraas blieb eine Woche, denn es war ihm sofort klar, dass es sich hier nicht um eine gewöhnliche Fundstelle handelte, sondern dass Überreste von gewaltigen Dinosauriern vor ihm lagen. Die Kolonialverwaltung zeigte sich jedoch weiterhin desinteressiert. Eine staatlich finanzierte Expedition sei ausgeschlossen.
Also brachte sich Wilhelm von Branca (1844–1928) ins Spiel. Er war Direktor des Geologisch-Paläontologischen Instituts und Museums in Berlin – er organisierte eine Ausgrabung. Um das Geld aufzutreiben, gründete von Branca das Tendaguru-Komitee. Seinen Spendenaufrufen folgten genug Menschen, so dass eine Expedition beginnen konnte.
Wie kamen die Fossilien nach Berlin?
Am Ende wurde vier Jahre lang gegraben, in einem Ausmaß wie selten zuvor bei paläontologischen Unternehmungen: Bis zu 500 Arbeiter, die meisten aus der afrikanischen Bevölkerung, legten die Fossilien frei. In tagelangen Märschen trugen sie insgesamt 225 Tonnen Knochen in 800 Transportkisten zum Hafen, von wo diese dann nach Berlin verschifft wurden. Im Museum für Naturkunde lagern noch heute ungeöffnete Kisten der Tendaguru-Expedition.
Doch wie war es überhaupt möglich, dass die deutschen Forscher die Fossilien nach Berlin überführen durften? Nach damaliger Rechtslage gehörte der Grund und Boden am Tendaguru dem Deutschen Reich. Allerdings nur, weil sich die Deutschen selbst zum Eigentümer ernannt hatten! Die Kolonialverwaltung hatte das Land 1908 als »herrenlos« deklariert und als Kronland annektiert. »Derartige Kronlandserklärungen erfolgten im Zuge der wirtschaftlichen Erschließung der Kolonie und stellten faktisch eine Enteignung und Vertreibung der lokalen Bevölkerung dar«, heißt es dazu beim Berliner Museum für Naturkunde. Das Deutsche Reich hatte das Land – und die darin befindlichen Fossilien – demnach alles andere als rechtmäßig erworben.
Die spektakulärsten Dinosaurierfunde kamen im 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts vor allem in den USA ans Licht. Eines der bekanntesten und größten Skelette war der in Pittsburgh entdeckte Diplodocus carnegii, benannt nach dem Millionär Andrew Carnegie. Dieser schickte Abgüsse des Diplodocus an viele Museen in Europa, weshalb das Skelett in Paris, Wien, Bologna, Madrid und seit 1908 auch in Berlin bewundert werden konnte.
Das größte montierte Dinosaurierskelett der Welt
Aber die Funde am Tendaguru übertrafen alles, was bis dahin bekannt war. Allerdings vergingen einige Jahre, bis der erste Dinosaurier in Berlin ausgestellt wurde. Erst 1924 war es so weit: Im Lichthof des Museums für Naturkunde baute man einen Kentrosaurus auf, einen Vogelbeckensaurier aus der Gruppe der Stegosauria. Das heutige Highlight der Ausstellung kam dann 1937 dazu: der Brachiosaurus brancai.
Mit enormem Aufwand hatten die Präparatoren das Skelett zusammengestellt, allein für einen Halswirbel benötigten sie 450 Arbeitsstunden. Benannt wurde der Dinosaurier nach dem damaligen Museumsdirektor, Wilhelm von Branca. Brachiosaurus brancai ist mit einer Höhe von 13,27 Metern bis heute das größte montierte Dinosaurierskelett der Welt. Er lebte vor 150 Millionen Jahren und wog rund 50 Tonnen. Mit einer Gesamtlänge von zirka 26 Metern zählte er zu den größten Landtieren der Erdgeschichte. 2009 stellte sich heraus, dass die Gattung nicht stimmte. Es handelte sich gar nicht um einen Brachiosaurus, sondern um einen Giraffatitan.
Eine Reise nach Japan rettet die Dinos
Die großen Dinosaurierskelette der Tendaguru-Expedition traten 1984 eine besondere Reise an: In 92 Transportkisten verpackt, wurden sie vom Hamburger Hafen nach Tokio verschifft, wo sie 100 Tage lang in einer Ausstellung zu sehen waren. Dafür musste Giraffatitan brancai demontiert und mit Paraloid, einem alterungsbeständigen Kunststoff, präpariert werden. Diese Arbeiten retteten das Skelett wahrscheinlich. Es war inzwischen nämlich so stark verwittert, dass es irgendwann zusammengebrochen wäre.
Der koloniale Kontext, aus dem die Tendaguru-Saurier stammten, rückte im Lauf der Jahre in den Hintergrund. Er wurde lange Zeit auch in der Ausstellung nicht berücksichtigt. Seit einigen Jahren ist das Museum jedoch um eine Aufarbeitung bemüht. So rekonstruierten Forscher um Ina Heumann drei Jahre lang die koloniale Geschichte der Skelette und brachten 2018 dazu eine umfassende Publikation heraus. Damit wurde viel von den damaligen Ereignissen bekannt gemacht. Zudem gibt es seit 2019 mit der Universität in Daressalam ein Memorandum of Understanding, mit dem beide Institutionen ihre Zusammenarbeit fördern wollen. Eine Restitution, wie sie derzeit für die Benin-Bronzen im neu eröffneten Humboldt-Forum diskutiert wird, ist im Moment kaum Thema. Seit 2011 ist auch eine Rückgabe in weite Ferne gerückt: Berlin hat den Giraffatitan brancai in das Verzeichnis der national geschützten Kulturgüter eintragen lassen. Damit liegt laut Kulturschutzgesetz der »Verbleib im Bundesgebiet im herausragenden kulturellen öffentlichen Interesse«.
Anm. d. Red.: Dieser Beitrag beruht auf den Forschungsergebnissen, die die Historikerin Ina Heumann und ihr Team vom Museum für Naturkunde in Berlin 2018 in folgendem Buch publiziert haben: Ina Heumann, Holger Stoecker, Marco Tamborini, Mareike Vennen, »Dinosaurierfragmente. Zur Geschichte der Tendaguru-Expedition und ihrer Objekte, 1906-2018« (2018).
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