Hemmer und Meßner erzählen: Kleine Geschichte eines Nilpferds, das als Zooberühmheit vegetierte
Am 18. Juli 1850 stand die britische Königin Victoria zum ersten Mal dem wohl größten Star Londons gegenüber. Der Besuch mit ihren Töchtern war der erste von fünfen. Stets unter freiem Himmel. Denn die Berühmtheit, die Victoria mit ihrer Anwesenheit ehrte, war kein Mensch, sondern die neueste Attraktion des Regent's Zoo: das Nilpferd Obaysch, das seit seiner Ankunft die Massen in den Tierpark lockte.
Die Geschichte des Hippos Obaysch hat der britische Historiker John Simons rekonstruiert und in seinem Buch »Obaysch: A Hippopotamus in Victorian London« aus dem Jahr 2019 aufgeschrieben.
Im 19. Jahrhundert entstanden erstmals öffentliche Zoos. Zwar gab es bereits seit Jahrhunderten Menagerien, doch die waren der Oberschicht vorbehalten. Ihre Schaukäfige wurden in Europa allmählich zu Zoos umgewandelt, zu denen nun auch die breite Bevölkerung Zugang hatte. Und schon damals war klar: Wer die Massen anziehen will, braucht einen Star. Die Royal Zoological Society sah dafür das Potenzial bei einem Nilpferd. Doch lange Zeit liefen die Anstrengungen, eines nach England zu holen, ins Leere.
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Erst ein Machtwechsel in Ägypten – es herrschte nun Abbas Hilmi I. (1813–1854) – lieferte die Chance. Der in Kairo stationierte Konsul Sir Charles Adolphus Murray wusste, wie er die Aufmerksamkeit und Großzügigkeit des neuen Machthabers erlangen konnte. Er schenkte ihm mehrere Jagdhunde samt Trainer. Im Gegenzug wurde ihm ein junges Nilpferd versprochen.
Wie Obaysch nach England kam
Eine Jagdgesellschaft fing im August 1849 ein solches Tier an den Ufern des Weißen Nils. Das etwa ein Jahr alte Nilpferd saß in den Gräsern einer kleinen Insel und wurde daher nach dem lokalen Namen des Eilands benannt: Obaysch.
Nun musste das für den Londoner Zoo bestimmte Flusspferd nach England geschafft werden. Und das dauerte. Nach dreimonatiger Reise in die Hauptstadt Kairo wurde Obaysch dort mit Datteln und Kuhmilch einige Monate aufgepäppelt, damit das Tier die beschwerliche Schiffsreise nach England auch gesund überstehen würde.
Im Mai 1850 wurde Obaysch schließlich nach Alexandria transportiert und in die »SS Ripon« geladen. Das nächste Ziel lautete: Southampton. An Bord war auch sein Pfleger Hamet. Er versorgte Obaysch in einem Verschlag, der mit einem Wassertank ausgestattet war. Gerade günstig war der Transport allerdings nicht: Die 16-tägige Überfahrt kostete 500 britische Pfund, das entspricht heutigen 70 000 Pfund. Einerseits verschlang Obaysch Unmengen an Futter, und andererseits musste der für ihn konstruierte Tank, der 1515 Liter fasste, täglich mit Frischwasser aufgefüllt werden.
In Southampton angekommen, brachte man Obaysch unter den staunenden Blicken vieler Schaulustiger mit seinem Tank in einen Zug nach London.
Die Menschen waren verrückt nach Obaysch
Für die staunende Öffentlichkeit im viktorianischen England war das Nilpferd ein Novum, eine bisher nie da gewesene Sensation. Die Menschen kannten die riesigen Tiere bis dahin nur von Abbildungen – und die waren teils auch noch falsch. Die Rechnung des Zoos ging jedenfalls auf: In dem Moment, als Obaysch in London ankam, waren die Menschen verrückt nach ihm. So sehr, dass sie bereit waren, neben dem Eintrittspreis für den Zoo noch einen nicht unwesentlichen Aufpreis von einem Shilling zu zahlen, um das Flusspferd sehen zu können.
Die eingangs genannte Königin Victoria war eine der ersten Besucherinnen. Auch die Zeitungen stürzten sich auf das neue Tier im Zoo. Selbst das Satiremagazin »Punch« erwähnte Obaysch gleich in mehreren Ausgaben.
Die Royal Zoological Society ihrerseits hatte nicht nur den Anspruch zu unterhalten, sondern wollte auch – um sich von den Menagerien der Herrscher abzugrenzen – den wissenschaftlichen Aspekt der Zurschaustellung betonen. So wurde versucht, Obaysch so zu präsentieren, wie er in freier Wildbahn gelebt haben könnte. Diesem Anspruch wurde der Zoo allerdings nicht gerecht. Das eigentlich nachtaktive Tier wurde während der Nacht eingesperrt und tagsüber in seinen Pool entlassen, wo Obaysch dann die meiste Zeit schlafend verbrachte.
Ein Star musste her, um konkurrenzfähig zu werden
Seiner Popularität tat dies allerdings keinen Abbruch. Zwar gab es, wie Historiker Simons betont, keine Hippomanie: keine massenhaften Zeitungsartikel, keine Medaillen oder Pins mit Abbildungen Obayschs, wie es in neueren Berichten manchmal kolportiert wird. Doch kulturhistorisch betrachtet hatte Obaysch in England eine große Wirkung entfaltet. Das Tier half dem Zoo, sich einen wissenschaftlichen Anstrich zu verpassen – auch wenn die damaligen Haltungsmethoden aus heutiger Sicht eher zweifelhaft waren.
Für den Regent's Zoo war der neue tierische Star das perfekte Vehikel, um mit den kontinentaleuropäischen Zoos konkurrieren zu können, allen voran mit dem schon 1794 gegründeten Zoo in Paris, Le Ménagerie du Jardin des Plantes. Zudem bedienten Obaysch und sein Pfleger Hamet die Sicht vieler Engländerinnen und Engländer auf den Orient. Es verwundert nicht, dass der Zoo später noch einen Schlangenbeschwörer nach London holte, der im Schlangenhaus wirkte und zu einer ähnlichen Attraktion wie Obaysch wurde.
Gleichzeitig sollte das Nilpferd zeigen, wie das viktorianische England das Wilde und Gefährliche des afrikanischen Kontinents zu zähmen wusste. In zeitgenössischen Quellen wurde nämlich kaum berichtet, wie gefährlich Flusspferde sein können. Ebenso selten wurde erwähnt, wenn Obaysch nicht dem Ideal einer genügsamen, schwerfälligen und freundlichen Kreatur entsprach.
Etwa als das Nilpferd aus seinem Gefängnis entkommen war und nur mit einer List seines Pflegers wieder zurückgelockt werden konnte. Der große Schreck und die Erkenntnis, dass es sich bei Obaysch noch immer um ein wildes und gefährliches Tier handelte, verschwieg die Presse damals.
Das Nilpferd hatte kein langes Leben
Obaysch verbrachte mehr als 27 Jahre in Gefangenschaft. Nach nur einem Jahr nahm der Trubel um ihn bereits merklich ab. Ein Grund war ein Elefantenbaby, das im Zoo zur Welt gekommen war. Offenbar war das Geschäft um Prominente und Stars damals so unbarmherzig wie heute.
Vier Jahre nach Obayschs Ankunft in London kaufte der Zoo ein Nilpferdweibchen. Adhela bekam zwar etwas weniger Aufmerksamkeit, der Zoo erhoffte sich aber zumindest Nachwuchs. Der Wunsch ging in Erfüllung, jedoch langfristig erst mit dem dritten Hippobaby, das am 5. November 1872 auf die Welt kam. Es sollte alt genug werden, um sowohl Obaysch als auch Adhela zu überleben.
Obaysch starb am 11. März 1878. Sein Pfleger vermutete Altersschwäche. Das zeigt, wie wenig damals über Nilpferde bekannt war. Bei seinem Tod war das Tier ungefähr 30 Jahre und damit nur etwa halb so alt, wie Nilpferde in der Natur werden können. Die Obduktion ergab, dass Obaysch wohl unterernährt war, was auch die relativ geringe Größe erklärte. Zudem war seine Haut durch falsches Wassermanagement trocken und rissig gewesen.
Was blieb von Obaysch? Sein wichtigstes Vermächtnis ist wohl die Tatsache, dass der Regent's Zoo mit ihm sein Überleben sicherte. Erst durch die Strahlkraft des Nilpferds konnte die Royal Zoological Society, die bis zu diesem Zeitpunkt nur Verluste geschrieben hatte, genug Geld machen, um den Zoo zu erhalten und auszubauen. Gleichzeitig festigte sich die Idee des Zoos als Ort, wo einer wachsenden Mittelschicht neben Unterhaltung auch Bildung geboten wurde.
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