Hemmer und Meßner erzählen: Kleine Geschichte einer Frau, die als Erste die Welt umradelte
Fortbewegungsmittel haben es an sich, dass sie nicht nur Menschen von A nach B befördern, sondern auch Entwicklungen beschleunigen. Das gilt für das Schiff, den Zug und das Auto. Doch auch der Drahtesel hat revolutionäres Potenzial, wie die Geschichte der Annie Londonderry (1870/71–1947) belegt. Sie machte sich einen – neuen – Namen, indem sie als erste Frau zwischen 1894 und 1895 auf dem Fahrrad die Welt umrundete. Frauen mussten damals eigentlich keine spektakulären Taten vollbringen, um auf dem Zweirad für Aufsehen zu sorgen. Es reichte schon, wenn sie damit herumfuhren. Aber alles der Reihe nach. Zunächst einmal zum Drahtesel selbst.
Die Welt im Fahrradfieber
In den USA waren die 1890er Jahre die Zeit des »bicycle craze«. Allein 1897 wurden über zwei Millionen Räder verkauft, große Fahrradausstellungen fanden statt und Radklubs wurden gegründet. Das Vehikel gab es noch nicht lange und hatte auch noch keinen festen Platz in der Gesellschaft. Doch seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wollten die Menschen zeiteffizienter und schneller vorankommen. Und der etwas angestaubte, dem Lateinischen entnommene Begriff »Veloziped« verrät bereits, wie man unterwegs sein wollte: »schnellen Fußes«, aber nicht wie bisher auf Schusters Rappen.
Ab 1870 sattelten Radfahrer dann immer mehr vom Drei- oder Vierrad auf den Akt des Balancierens um: zunächst auf Hochräder, die auch »Ordinary« genannt wurden, anschließend auf ein Modell namens »Safety« – das Sicherheitsniederrad, das mehr den heutigen Fahrrädern ähnelte. Bei »Safety« waren nun beide Räder gleich groß. Das verlieh dem Radler mehr Stabilität, und es ließ sich schneller vorankommen.
Auf dem Drahtesel in die Freiheit
Bei Traditionshütern sorgen neue Technologien oft für wenig Begeisterung. Wie war das noch mit dem Augenlicht ruinierenden Lesen von Romanliteratur? Oder den flimmernden Bildern des Fernsehens? Im 19. Jahrhundert schien der Hype ums Rad das Ende einer alten Ordnung einzuläuten: Denn Frauen arbeiteten mehr und mehr außer Haus, engagierten sich politisch und fuhren nicht selten – genau! – Fahrrad.
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Die neuen Möglichkeiten, die eine persönliche Mobilität bot, widersprachen vielem, wofür das 19. Jahrhundert stand. Unbeaufsichtigt und hoch zu Rad die Nachbarschaft zu erkunden, dabei vielleicht sogar die Knöchel zu entblößen – für eine Frau unerhört! Doch die Radlerinnen brauchten Beinfreiheit. Und das sorgte für gar unsittliche neue Moden bei der Bekleidung. Lange, voluminöse Kleider, das Korsett, hoher Kragen und lange Puffärmel mussten praktischeren Outfits weichen. Zwar regte sich zu jener Zeit schon aus gesundheitlichen Gründen Unmut gegen die unbequemen Stoffmassen, doch die neue Fahrradmode brachte die entscheidenden Veränderungen auf den Weg.
Zur selben Zeit formierten sich die ersten Frauenbewegungen in den USA. Und der »Fahrradwahn« war von großer Bedeutung für die Durchsetzung ihrer Ziele. Laut der berühmten Frauenrechtsaktivistin Susan B. Anthony (1820–1906) habe das Radfahren mehr für die Emanzipation der Frau getan als viele andere Bemühungen. Frances Willard (1839–1898), eine weitere bekannte US-Frauenrechtlerin, rief in ihrem 1895 erschienenen Buch »A Wheel Within a Wheel: How I learned to Ride the Bicycle« andere Frauen dazu auf, »eine weitere Welt kennen zu lernen, die natürliche Liebe zum Abenteuer auszuleben und sich dieses neue Werkzeug der Macht untertan zu machen«.
Genau das tat Annie Londonderry.
Die Radtour ihres Lebens
Londonderry kam 1875 mit fünf Jahren aus Lettland in die USA. Mit 16, nach dem Tod ihres Vaters, musste sie für ihre kleinen Geschwister sorgen. Weitere vier Jahre später war sie bereits verheiratet und hatte drei Kinder. Sie arbeitete als Anzeigenverkäuferin für verschiedene Tageszeitungen in Boston. Ihre Familie und die ihres Bruders lebten unter einem Dach.
Ganz klar sind die Umstände nicht, aber angeblich hatten zwei Bostoner Geschäftsmänner gewettet, eine Frau sei nicht dazu fähig, die Welt zu umradeln. Londonderry hielt dagegen – sie beschloss 1894, genau das zu tun.
Würde sie es schaffen, in 15 Monaten den Erdball auf dem Veloziped zu umrunden, könnte sie ein stattliches Preisgeld von 10 000 Dollar einstreichen. Ihr Weg führte sie durch Frankreich, wo die Zeitungen schwärmerisch von ihr berichteten, um auf dem Dampfer Sydney in Richtung Asien weiterzureisen. Wie bei allen guten Abenteuergeschichten dürften einige ihrer Erlebnisse frei erfunden sein. Zwar war sie tatsächlich in Alexandria, Port Said, Sri Lanka, Singapur und Hongkong – doch die meiste Zeit verbrachte sie an Bord eines Dampfers, nicht auf dem Sattel. Dennoch: Am 24. September 1895 erreichte sie unter viel Beifall den Zielpunkt Chicago. Sie hatte die Welt durch ihre Unabhängigkeit und ihren Wagemut in Erstaunen versetzt.
Werbeikone und Selbstvermarktungstalent
Londonderry verdiente gut an ihrem Abenteuer. Markennamen, die auf Fahrradtrikots und Rädern prangen, sind heute fester Bestandteil des Profisportgeschehens. Bereits Londonderry und ihre Förderer hatten die Vorzüge einer mobilen Werbefläche erkannt. Nur zu Werbezwecken legte sich die Weltumradlerin sogar einen neuen Namen zu: Aus Anna Kopchovsky wurde Annie Londonderry. Sie erhielt 100 Dollar von der Londonderry Lithia Spring Water Company dafür, ihren Nachnamen zu ändern und den Markennamen des Getränkeherstellers auf ihrer Kleidung zu tragen. Fahrradfahren war ein neuer Boom – auch für den aufblühenden Kapitalismus.
Frauen profitierten von Londonderrys Abenteuer. Auf der ersten Etappe ihrer Reise stellte sie sich eine praktische, aber Aufsehen erregende neue Garderobe zusammen. Die sonst üblichen Kleider waren lang, schwer und fürs Radfahren schlicht hinderlich. Korsetts schränkten die Bewegungsfreiheit und Atmung ein. Also entschied sich Londonderry für die so genannten Bloomers – nach der Sozialaktivistin und Kleidungsreformerin Amelia Jenkins Bloomer benannte, weite Hosen mit engen Kniebünden. In Europa firmierten sie unter dem Namen Türkenhosen oder türkische Hosen. Das revolutionäre Potenzial dieses offenkundigen Textilstatements entging niemandem. Es erwies sich auch als ideales Sujet für misogyne Karikaturen. Später wechselte Londonderry unerschrocken zu noch bequemeren Sportanzügen für Männer, was in Zeiten der rigiden Geschlechtertrennung viele tief schockierte.
Eine Frau, die Sport betrieb, ins Schwitzen kam, errötete – das sendete doch lauter erotische Signale an die Passanten, befürchteten Gegner der neuen Radlerbewegung. Schlimmer noch: Würden Frauen nun ohne einen männlichen Beschützer durch die Gegend fahren? Gaben sie sich dabei auch noch dem Rausch der Geschwindigkeit hin – ein Privileg, das bisher nur Männern vorbehalten war? Stimulierte der Sattel die Frauen womöglich sogar auf unziemliche Weise?! Die Angst war groß. Ärzte gaben mahnende Vorträge und warnten vor Schäden an der zarten Konstitution der Frauen.
Manche Moden überrollen glücklicherweise solche Sorgen: 1896 gab es allein in Boston bereits vier Radklubs nur für Frauen. Das Radeln war ein Massenphänomen geworden. Und Annie Londonderry? Hatte sie die Wette eigentlich gewonnen? Sie sagte, ja. Aber ob es stimmt, ist fast unerheblich, wenn man bedenkt, welche tief greifenden gesellschaftlichen Wandel sie ganz nebenbei durch ihre Unbeirrbarkeit mit angestoßen hatte.
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