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Hemmer und Meßner erzählen: Kleine Geschichte einer Gaunerei, die die Philosophie veränderte

Voltaire, die Lichtgestalt der Aufklärung, war reich. Steinreich genauer gesagt. So reich wie einer, der, sagen wir einmal, mit einem kleinen Trick die Staatslotterie um ein Vermögen erleichtert hat.
Der Dichter und Philosoph Voltaire, gemalt von Quentin de la Tour (1732)

Die Geschichte beginnt in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Frankreichs Staatsfinanzen sind in einem katastrophalen Zustand – nicht zuletzt auf Grund der berühmt-berüchtigten Mississippi-Blase, bei der der Staat zahllose Anleger in ein verheerendes finanzielles Abenteuer lockte. Richten soll es nun ein Kardinal: André-Hercule de Fleury soll sich im Auftrag seines Königs Ludwig XV. (1710–1774) der Sache annehmen. Es gilt, gemeinsam mit dem Finanzminister Michel Robert Le Pelletier des Forts Geld in die Staatskassen zu spülen.

Die naheliegende Idee, sich bei den Bürgern in Form von Staatsanleihen Kredit zu verschaffen, scheidet aus. Frisches Geld würde ihnen niemand leihen. Denn schon die bereits ausgegebenen Anleihen sind durch die prekäre Lage des Staatshaushalts beinahe wertlos geworden. Jeder wusste, dass der Staat sie auf absehbare Zeit nicht zurückzahlen können würde. Was aber, scheinen sich die beiden gedacht zu haben, wenn der Staat mit seinen Bürgern um das Geld spielte?

Kardinal de Fleury und Le Pelletier des Forts besinnen sich auf einen beim Volk beliebten Zeitvertreib: die Lotterie. Deren Geschichte beginnt in Frankreich bereits im Jahr 1539, doch richtig in Fahrt kam das Glücksspiel mit den Losen erst Anfang des 18. Jahrhunderts. Kaum hatte die Kirche ihre Gegenwehr aufgegeben, konnte man im Land bei dutzenden Lotterien teilnehmen. Um den Wildwuchs einzudämmen, wurden im Jahr 1727 wieder alle Lotterien bis auf drei verboten, aber das Lotteriefieber hatte die Leute schon lange gepackt. Genau das wollten sich die beiden Herren zu Nutze machen.

Die beiden Historiker Richard Hemmer und Daniel Meßner bringen jede Woche »Geschichten aus der Geschichte« in ihrem gleichnamigen Podcast. Auch auf »Spektrum.de« blicken sie mit ihrer Kolumne in die Vergangenheit und erhellen, warum die Dinge heute so sind, wie sie sind.
Alle bisherigen Artikel der Kolumne »Hemmer und Meßner erzählen« gibt es hier.

Ihr Plan war ein einfacher: Alle Besitzer von Staatsanleihen sollten das Recht bekommen, sich ein Los für die einmal monatlich stattfindende Lotterie zu kaufen. Wer ein Gewinnerlos zog, dem wurden 85 Prozent der Höhe seiner Anleihe zurückerstattet (die restlichen 15 Prozent gingen für Administratives und für den Pot der nächsten Ziehung drauf). Der Preis eines Loses wurde durch die Höhe der Anleihe bestimmt, die sich Käufer im Fall eines Gewinns auszahlen lassen wollten – nämlich ein Tausendstel. Wer also eine Anleihe im Wert von 1000 Livres besaß, konnte sich ein Los für eine Livre kaufen und darauf hoffen, seine Schrottanleihe für 850 Livres einzutauschen. Zusätzlich wurde bei jeder Ziehung noch ein Jackpot von 500 000 Livres ausgeschüttet.

Voltaire und der Mathematiker finden ein Schlupfloch

An dieser Stelle tritt ein gewisser Voltaire (1694–1778) auf den Plan, Schriftsteller, Philosoph, Wegbereiter der französischen Aufklärung und selbst stolzer Besitzer von Staatsanleihen. Welche Ereignisse sich nun entspinnen, hat der Voltaire-Biograf Roger Pearson von der University of Oxford dargelegt. Die Nachricht von der neuen Lotterie stößt bei Voltaire auf großes Interesse. So großes Interesse, dass er die Sache eines Abends mit Charles-Marie de La Condamine (1701–1774) diskutiert, einem befreundeten Mathematiker und Wissenschaftler.

Gemeinsam kommen sie zu dem Schluss, dass die Art und Weise, wie die Lotterie durchgeführt werden soll, ein Schlupfloch offen lässt. Und zwar eines, durch das sie alsbald selbst hindurchzuschlüpfen gedenken: die Höhe der Lospreise nämlich. Denn, so der Gedankengang, was wäre, wenn wenige Menschen sehr viele Lose kauften? Alles, was sie dazu benötigten, wären ausreichend viele Staatsanleihen von geringem Wert, die ihnen den Kauf sehr günstiger Lose ermöglichten. Allein über die schiere Menge an Losen wäre dann beinahe garantiert, dass der Jackpot jedes Mal an sie ausgeschüttet würde.

Königliche Lotterie im 17. Jahrhundert | Als der Widerstand der Kirche gebrochen war, gab es in Frankreich einen regelrechten Wildwuchs von Lotterien.

Rein rechnerisch müsste das aufgehen. Doch ein praktisches Problem steht der Umsetzung entgegen. Nur zwölf Notare stellen die Lose aus. Würde den Männern nicht auffallen, dass sich ein ums andere Mal dieselben Personen einen Großteil der Spielscheine verschaffen? Wie es den beiden gelang, dass bei ihrem Treiben nicht die Alarmglocken läuteten, ist nicht genau geklärt. Allerdings ist es nicht unwahrscheinlich, dass finanzielle Aufmerksamkeiten an die Notare für einen geräuschlosen Ablauf sorgten.

Der Plan wird in die Tat umgesetzt

Die Lotterie nimmt schließlich im Januar 1729 den Betrieb auf. Und während in den – heute noch existierenden – Aufzeichnungen der Lotterie im ersten Monat noch eine breite Verteilung an unterschiedlichen Losen aufscheint, ist im Februar schon eine ungewöhnlich hohe Anzahl an sehr günstigen Losen zu finden. Viele davon lauten auf nur einen Namen, aber auch La Condamine ist als einer der Besitzer eingetragen.

Das zieht sich nun durch alle monatlichen Ziehungen des Jahres: Immer häufiger wiederholen sich die Namen der Gewinner, bis im Oktober 1729 beinahe der gesamte Pot der Lotterie an nur 13 Personen geht. Warum es überhaupt so viele sind? Das hängt damit zusammen, dass Voltaire wohl bald erkennt, dass es klüger wäre, auch noch einige andere mit ins Boot zu holen, um von den Tricksereien abzulenken.

Doch so richtig will Voltaire es sich nicht nehmen lassen, dem Staat zu zeigen, dass er es ist, der die Lotterie austrickst. Da es zu jener Zeit üblich war, Lotteriescheine mit einem Spruch, einem Gebet oder einer Glücksformel zu versehen, tut das auch Voltaire – und nutzt es, um sich über den Staat lustig zu machen. »Vielen Dank an den Finanzminister Pelletier des Forts« schreibt er auf ein Los, »Lang lebe La Condamine« auf ein anderes.

Natürlich kommt der angesprochene Le Pelletier des Forts der ganzen Sache auf die Schliche. Zuerst versucht er die Regeln zu ändern, kurz darauf zieht er die Reißleine: Im Juni 1730 stellt die Lotterie schließlich für immer ihren Betrieb ein. Eine Klage gegen Voltaire und La Condamine wird vom Gericht abgeschmettert.

Standesgemäßes Anwesen | Im fortgeschrittenen Alter gönnte sich Voltaire ein kleines Schloss als Wohnsitz: Das Château de Ferney befindet sich in der Nähe von Genf. Hier zu sehen ist ein Kupferstich aus dem Jahr 1770.

Doch es ist ohnehin zu spät. Voltaire ist jetzt, genau wie La Condamine und seine unbekannten Mitstreiter, reich, steinreich sogar. Es wird geschätzt, dass er über den gesamten Verlauf der Lotterie an die 500 000 Livres eingenommen hat. Zum Vergleich: Wer damals 30 000 Livres im Jahr verdiente, hatte bereits ein fürstliches Einkommen.

Geld bedeutet Freiheit

Für Voltaire und La Condamine bedeutet dieser Reichtum nun vor allem die große Freiheit. La Condamine finanziert seine Forschungsreisen, unter anderem nach Südamerika, und gilt heute als Wegbereiter Alexander von Humboldts.

Und Voltaire? Der verwendet das Geld, um mit diversen Investitionen noch mehr Geld zu machen. Vor allem aber gibt ihm sein Reichtum die Unabhängigkeit, um das zu tun, was er am besten kann: schreiben und Einfluss nehmen. Mit 36 Jahren steht er gerade erst am Anfang einer langen Karriere als Philosoph und Lieblingsgast diverser Königshöfe, unter anderem jenes von Friedrich dem Großen (1712–1786).

Viele seiner Werke, insbesondere die, in denen er die Ideale der Aufklärung in Worte fasst, schreibt er schließlich in seinem Château de Ferney, das er sich nach seiner Rückkehr nach Frankreich zulegt und restauriert. Seine Impulse für die Philosophie, die der Welt einen Helden der Aufklärung bescherten, verdanken sich also auch einer schlecht konzipierten Lotterie und zwei Männern, die diese Tatsache hemmungslos auszunutzen wussten.

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