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Hemmer und Meßner erzählen: Kleine Geschichte eines Hochstaplers, der (fast) ganz England narrte

Ein verschollener Adeliger, eine verzweifelte Mutter auf der Suche und ein Metzger, der behauptete, ihr Sohn zu sein. Das ergab genau die richtige Mischung für ein viktorianisches Drama, wie unsere Kolumnisten erzählen.
Ankunft des Anspruchstellers Arthur Orton im Gerichtssaal, um 1870.
Arthur Orton betritt um 1870 den Gerichtssaal. Der Mann hatte Klage eingereicht, um seine Identität als Adelsmann Roger Tichborne bestätigen zu lassen. Seiner Sache war aber kein Erfolg beschieden.
Die beiden Historiker Richard Hemmer und Daniel Meßner bringen jede Woche »Geschichten aus der Geschichte« in ihrem gleichnamigen Podcast. Auch auf »Spektrum.de« blicken sie mit ihrer Kolumne in die Vergangenheit und erhellen, warum die Dinge heute so sind, wie sie sind.
Alle bisherigen Artikel der Kolumne »Hemmer und Meßner erzählen« gibt es hier.

Im 19. Jahrhundert ereignete sich in England eine bizarre Geschichte, voller Intrige und Drama – also ein Ereignis wie gemacht für das viktorianische Zeitalter, das nach Intrigen und den damit verbundenen Dramen geradezu lechzte. Diese Geschichte endete am 1. April 1898 mit dem Tod eines Mannes, der seinen Lebensabend mittellos und einsam in einer kleinen Wohnung in London zugebracht hatte. Aber entgegen diesen Umständen in Anwesenheit von mehr als 5000 Trauergästen beerdigt wurde. Auf seinem Sarg prangte eine Plakette, die folgenden Namen nannte: Sir Roger Charles Doughty Tichborne.

Wer war dieser Sir Roger Tichborne? Ein verarmter Adliger? Die Wahrheit ist weit kurioser.

Tatsächlich kam am 5. Januar 1829 ein Roger Charles Doughty Tichborne zur Welt, als Sohn einer der ältesten Adelsfamilien Englands. Er führte ein Leben voller Privilegien, aber auch persönlicher Turbulenzen, nicht zuletzt auf Grund der stürmischen Ehe seiner Eltern. Seine frühen Jahre verbrachte er in Frankreich, bis ihn sein Vater schließlich zurück nach England holte und dort auf ein strenges jesuitisches Internat schickte. Nach seinem Schulabschluss, mit 20 Jahren, trat Roger ins Militär ein. Als Soldat der 6. Dragoon Guards, einer schweren Kavallerieeinheit, verpassten ihm seine Kameraden bald schon den Spitznamen »Frenchie«, weil er offenbar einen hörbar französischen Akzent hatte. So oder so: Es sollte eine kurze militärische Karriere werden.

Bald nämlich ging Roger eine Liebschaft mit seiner Kusine ein, der um vier Jahre jüngeren Katherine Doughty. Ihre Eltern, Rogers Onkel und Tante, wollten davon aber nichts wissen. Allerdings nicht, weil sie das Verwandtschaftsverhältnis als Hinderungsgrund sahen – im alten Adel waren derartige Liaisons keine Seltenheit –, sondern in erster Linie wegen Rogers unsteten Lebenswandel.

Als ihm die Eltern im Jahr 1853 den Kontakt zu Katherine untersagten, war er am Boden zerstört. Er hoffte auf eine Verlegung seiner Kompanie nach Indien, um in der Ferne seinen Liebeskummer zu überwinden. Als seine Truppe jedoch nicht dort stationiert wurde, quittierte Roger Tichborne kurzerhand seinen Militärdienst und verließ England in Richtung Südamerika. Gelockt von den damals sehr beliebten Erzählungen über die unberührte Natur des Kontinents, aber auch von den attraktiven Aussichten auf Handelskontakte insbesondere in Chile, hoffte Tichborne, dort sein Glück machen zu können.

Roger Charles Tichborne (1829–1854) | Der Adelsmann ließ vermutlich 1853 Daguerreotypien von sich anfertigen und schickte sie nach England zu seiner Mutter. Bald darauf galt er als verschollen.

Doch auch dieser neue Abschnitt im Leben des jungen Adligen sollte nur von kurzer Dauer sein. Nach seiner Ankunft in der Hauptstadt Santiago de Chile, wo er noch zwei Daguerreotypien von sich anfertigen ließ, die er zu seiner Mutter nach England schickte, machte er sich im April 1854 daran, nach Jamaika überzusetzen. Doch das Schiff »Bella« sollte nie dort ankommen. Es verschwand samt der kompletten Besatzung inklusive Roger Tichborne auf hoher See.

Die Mutter wollte nicht glauben, der Sohn sei tot

Zurück in England weigerte sich Rogers Mutter Henriette Felicité den Tod ihres Sohnes zu akzeptieren. Nicht zuletzt, weil ihr im Lauf der Jahre immer wieder Hoffnung gemacht wurde. So auch 1858, als ein ehemaliger Seemann, mittlerweile ein Landstreicher, am Sitz der Familie – Tichborne Park in der englischen Grafschaft Hampshire – um Almosen bat. Er erzählte der Mutter genau das, was sie seit dem Verschwinden ihres Sohnes im Jahr 1854 hören wollte: Die Crew der »Bella« habe überlebt und es nach Australien geschafft.

Henriette Felicité begann nun Anzeigen zu schalten. Zuerst in diversen britischen Zeitungen, schließlich mit Hilfe eines Mannes namens Arthur Cubitt und seiner »Missing Friends Agency« auch in Australien. Ein Unterfangen, das tatsächlich elf Jahre nach dem Verschwinden ihres ältesten Sohnes ein erstaunliches Resultat zeigte.

In dem kleinen Ort Wagga Wagga in New South Wales meldete sich ein Metzger namens Thomas Castro, der behauptete, Roger zu sein. Ein Anwalt, der die Behauptung überprüfen sollte, bemerkte auf Castros Pfeife die Buchstabenfolge RCT, also die Initialen Tichbornes. Castro wurde kurzerhand über Sydney nach Europa verschifft, um dort Rogers Mutter zu treffen.

Die Familie schickte Detektive in die Welt

Henriette Felicité, die trotz des deutlich veränderten Aussehens in Castro ihren Sohn erkannte, nahm ihn mit Freude auf. Viele zweifelten jedoch an seiner Identität. Zum Beispiel waren da die Französischkenntnisse Castros – oder besser gesagt, die völlige Absenz derselbigen. Vor allem der augenscheinlichste Grund ließ Zweifel aufkommen: Der korpulente Metzger aus Wagga Wagga hatte mit dem schlanken und eleganten Mann auf der Daguerreotypie aus Chile so gar keine Ähnlichkeit.

Obwohl die Mutter keine Zweifel erlaubte, machte sich der Rest der Familie daran, die Geschichte Castros genauer zu überprüfen. Bis nach Südamerika und Australien schickten sie Detektive aus, die die Spur Tichbornes – und eben auch Castros – nachverfolgen sollten. Dort konnten sie zwar weder zu Tichborne noch zu Castro etwas herausfinden, aber mit einem Bild des Metzgers aus Wagga Wagga konfrontiert, fiel immer wieder ein ganz bestimmter, neuer Name: Arthur Orton. Dasselbe ereignete sich in Chile. Menschen erkannten ihn auf Fotografien – aber nicht als Thomas Castro, sondern als Arturo Orton.

Ein ebenfalls in England engagierter Detektiv fand indessen heraus, dass Castro nach seiner Ankunft in England und vor seinem Besuch der Tichborne-Familie im Londoner Arbeiterbezirk Wapping unterwegs gewesen war – und sich dort nach der Familie eines Arthur Orton erkundigt hatte.

Wider besseres Wissen blieb Rogers Mutter überzeugt

Eigentlich war die Sache damit klar, wie es auch der Historiker Rohan McWilliam von der englischen Anglia Ruskin University in seinem Buch »The Tichborne Claimant« schildert. Thomas Castro war Arthur Orton, ein Mann, der ebenfalls England in Richtung Südamerika verlassen hatte, allerdings im Gegensatz zu Tichborne nicht auf See verschollen ging, sondern sich als Metzger in Australien niedergelassen hatte.

Baronet oder Metzger? | Diese Illustration von Arthur Orton erschien 1871 in »Vanity Fair«. Als »Mann des Tages« und mit der Aussage »baronet or butcher« wurde er abgebildet.

Doch Roger Tichbornes Mutter ließ sich nicht von solchen Tatsachen beirren. Weiterhin beharrte sie darauf, dass der korpulente Metzger aus Australien ihr lang verschollener Sohn sei und damit der Erbe nicht nur des Tichborne-Titels, sondern auch des Vermögens. Dem Rest der Familie dämmerte: Kein Gericht würde in so einem Fall gegen die Einschätzung der Mutter entscheiden. Es schien fast so, als hätte Orton es geschafft.

Doch am 12. März 1868 starb Lady Tichborne. Nun begann jener Teil der Saga, der sich vor allem in der Öffentlichkeit abspielte. Denn Castro, der sich inzwischen Sir Roger nannte, hatte zwar ernst zu nehmende Widersacher wie die Familie Tichborne, aber in der Öffentlichkeit fand er zahlreiche Unterstützer. Sie sahen in seinem Ringen um die Anerkennung als rechtmäßiger Erbe auch einen Klassenkampf – und unterstützten Castro finanziell, damit er sein Erbe einklagen könne.

Für Castro ging dieser Schuss allerdings nach hinten los. Nachdem mehr als 100 Zeuginnen und Zeugen befragt worden waren, wies das Gericht die Klage nach 102 Tagen ab. Bald darauf, 1873, begann ein neues Verfahren. Diesmal saß auf der Anklagebank: Castro selbst. Er wurde beschuldigt, ein Hochstapler zu sein und musste nun beweisen, dass er nicht Arthur Orton sei.

Am Ende des beinahe ein Jahr dauernden Prozesses, der seine Unterstützer umgerechnet Zehntausende Euro gekostet hatte, wurde Orton schließlich im Februar 1874 schuldig gesprochen. Das Gericht hatte zuvor auch entschieden, dass er nicht Castro, sondern Orton war. Das Urteil lautete: 14 Jahre Gefängnis.

Vorkämpfer der Arbeiterklasse

Ortons Geschichte endete damit nicht. Er galt in der Öffentlichkeit weiterhin als Symbol für den Kampf der Arbeiterklasse gegen den Adel. In Balladen und Zeitungskommentaren wurde er gefeiert. Sein Anwalt, Edward Vaughan Kenealy (1819–1880), rief sogar eine politische Bewegung zu Ortons Verteidigung ins Leben, die aber letztlich scheiterte.

Orton selbst hatte davon nicht viel. Nachdem er das Gefängnis 1884 verlassen konnte, war die Begeisterung für seinen Fall längst verebbt. Er schloss sich einem Zirkus an, reiste mit der Truppe bis nach New York City – und schließlich im Jahr 1895, wohl getrieben von wirtschaftlicher Not, gestand er öffentlich, nicht Roger Tichborne zu sein. In der Zeitung »The People« wurde dieses Geständnis in Form mehrerer Artikel als »Confession of the Tichborne Claimant« veröffentlicht. Darin versuchte Orton seine Geschichte als einen elaborierten Scherz, der etwas aus den Fugen geraten war, darzustellen. Das erhoffte Kapital für einen Neuanfang brachte ihm dieses Geständnis allerdings nicht ein.

Er war mittellos, als er am 1. April 1898 vereinsamt starb. Doch er fand ein letztes Mal Unterstützung in der Öffentlichkeit, die nun für seine Beerdigung Geld sammelte und zu Tausenden seiner Beisetzung beiwohnte. Die Tichbornes hatten es zudem großzügigerweise erlaubt, dass auf seinem Sarg die eingangs erwähnte Plakette angebracht wurde.

Der ganze Fall war kurios. Aber er bietet bis heute einen faszinierenden Einblick in die gesellschaftlichen, rechtlichen und kulturellen Verhältnisse des viktorianischen England.

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