Hemmer und Meßner erzählen: Kleine Geschichte eines Mannes, der die Genetik der UdSSR zerstörte
Trofim Lyssenko vertrat krude Thesen. Nicht nur aus heutiger Sicht. Schon zu seiner Zeit zwischen den 1930er und 1960er Jahren warnten sowjetische Genetiker und Biologen davor, Lyssenkos landwirtschaftliche Anbaumethoden ernst zu nehmen. Nicht wenige dieser Forscher verloren deshalb ihre Arbeitsstelle, wurden verhaftet oder umgebracht. Denn Lyssenko hatte einen bedeutenden Befürworter: Stalin. Und das, obwohl seine pseudowissenschaftlichen Methoden fatale Folgen für die Sowjetunion hatten. Doch staatliche Propaganda machte den Lyssenkoismus möglich. In Sachen Genetik und Agrarforschung fiel die Sowjetunion um Jahrzehnte zurück.
Wie der Lyssenkoismus begann
Trofim Lyssenko (1898-1976) arbeitete Ende der 1920er Jahre als Pflanzenzüchter. Er wollte wissen, wie sich der Ertrag beim Getreideanbau steigern ließe. Mit einer Methode erzielte er große Erfolge: der Vernalisation. Sie beruht darauf, dass manche Pflanzen erst blühen, wenn sie für eine bestimmte Zeit kalten Temperaturen ausgesetzt waren. Wintergetreide zum Beispiel, das im Herbst ausgesät wird, beginnt dann nämlich nicht vor Wintereinbruch zu schossen und zu blühen. Um in Sibirien das ertragreichere Wintergetreide auch im Frühjahr anzubauen, musste diese Kältephase künstlich erzeugt werden. Das Getreide wurde vernalisiert, das heißt kältebehandelt. Anschließend wurde es im Frühjahr ausgesät.
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Nachdem sich Lyssenko in der Sowjetunion einen Namen als Agrartechniker gemacht hatte, wurde er an das Allunionsinstitut für Genetik und Zuchtverfahren in Odessa berufen. Dort begann er in den 1930er Jahren, neolamarckistische Ideen zu verbreiten. Der Lamarckismus geht auf Jean-Baptiste de Lamarck (1744–1829) zurück. Dieser entwickelte die Theorie, dass Organismen Eigenschaften an ihre Nachkommen vererben können, die sie während ihres Lebens erworben haben. Lyssenko war aber nun der Auffassung, dass die Eigenschaften nicht durch Gene, sondern durch die Umweltbedingungen bestimmt werden. Die Vererbungslehre lehnte er ab, und die Existenz von Genen wies er als unsozialistisch zurück.
Um die Ernährungssituation in der Sowjetunion zu verbessern, schlug er vor, aus dem ertragreichen Winter- ein Sommergetreide zu machen. Diese »Artumwandlung«, wie er es bezeichnete, würde ihm innerhalb weniger Generationen gelingen. Lysenko folgte damit seinem Mentor Iwan Mitschurin (1855–1935). Schon dieser hatte die mendelschen Regeln abgelehnt. Pflanzen könne man durch Erziehung beeinflussen, davon war der Botaniker überzeugt. Neue Arten würden demnach nicht durch Mutation und Selektion, sondern allein durch Umwelteinflüsse entstehen. Mitschurin und nach ihm Lyssenko hatten sich für ihre Thesen beim leninistisch-marxistischen Gesellschaftsbild bedient und es auf die Pflanzenwelt übertragen. Eine solche pseudowissenschaftliche Vorgehensweise bezeichnet man auch als »creative Darwinism«.
Unter der Ägide von Stalin
Es dauerte nicht lange, da bekam Lyssenko die Unterstützung von ganz oben: Josef Stalin, Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, war von Lyssenkos Arbeit überzeugt und setzte große Hoffnung auf ihn. Lyssenkos Methoden klangen viel versprechend: Sämtliche Verbesserungen bei der Pflanzenzucht in der Gegenwart würden sich direkt auf das Erbgut kommender Generationen auswirken, was die Ernährungssituation in der Sowjetunion sofort und nachhaltig verbessern würde.
Lyssenko pflegte das Image eines einfachen Bauern und war auch als der barfüßige Akademiker bekannt. Doch seine Experimente genügten keinem bekannten wissenschaftlichen Standard. Zudem konnte später nachgewiesen werden, dass er Ergebnisse gefälscht hatte. Wissenschaftlich war der Lamarckismus zu jener Zeit ohnehin längst überholt – und so hatte die zunehmende Verbreitung des Lyssenkoismus fatale Folgen.
Zerstörte Spitzenforschung
In der Sowjetunion forschten damals einige der weltweit führenden Genetiker. Aber damit war nun Schluss – unter Lyssenkos Federführung wurde die Genetik als »faschistische und bourgeoise Wissenschaft« diskreditiert und der Lyssenkoismus als alleinige Lehrmeinung festgeschrieben. Während des so genannten Großen Terrors zwischen 1936 und 1938 wurden zahlreiche Forscher drangsaliert und getötet. Tausende Biologen und Genetiker verloren ihre Arbeit, wurden verhaftet und verfolgt.
International wurde die Situation der Genetik in der Sowjetunion mit Sorge beobachtet: 1937 erschien eine Studie in »Nature« mit dem Titel »Genetics and Plant Breeding in the USSR«. Die Autoren verwarfen Lyssenkos Arbeit vollständig, ihr Urteil über seine Methoden war vernichtend. Und: Lyssenko konnte auch keine Erfolge vorweisen – im Gegenteil: 1946/47 kam es zu einer Hungersnot. Auf seine Anweisung hin waren große Flächen mit Weizen bepflanzt worden, die klimatisch dafür nicht geeignet waren. Die Folge: Missernten.
Nach Stalins Tod 1953 büßte Lyssenko zwar immer mehr an Einfluss ein, aber seine Posten verlor er erst 1965, als Teile der sowjetischen und internationalen Wissenschaftsgemeinde ihn und seine Thesen offen ablehnten. 1965/66 ließen die Behörden dann sogar der Biologieunterricht in der Sowjetunion aussetzen, um den Lyssenkoismus aus den Lehrplänen zu streichen.
Renaissance des Lyssenkoismus
Lyssenko hatte die biologischen Wissenschaften in der Sowjetunion nachhaltig geschädigt. Gänzlich vom Tisch sind seine Thesen aber noch nicht. Seit einigen Jahren beobachten Experten in Russland einen Neo-Lyssenkoismus: So ziehen manche Forscher eine Traditionslinie vom Lamarckismus über Lyssenko bis zur Epigenetik. Wissenschaftshistoriker warnen bereits vor dieser Entwicklung: Der Lyssenkoismus dürfe nicht wieder als Wissenschaft aufgewertet werden.
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