Hemmer und Meßner erzählen: Kleine Geschichte eines vermoderten Werks von Archimedes
Es war eine Sensation! Johan Ludvig Heiberg, ein dänischer Mathematikhistoriker und Philologe, bekam 1906 einen Bibliothekskatalog in die Hände. Darin war ein Gebetbuch aus Pergament vermerkt – das doppelt beschriftet war. Der Katalog enthielt aber nicht nur eine Zusammenfassung des Buchs, sondern auch die Transkription eines Originalabschnitts, der überschrieben worden war. Heiberg, einer der besten Kenner antiker, griechischer Mathematiker, erkannte sofort: Der ältere Text musste aus einem Werk von Archimedes stammen.
Der Däne entdeckte damit das älteste existierende Manuskript mit Texten von Archimedes in griechischer Sprache. Es ist ungefähr 400 Jahre älter als alle anderen bekannten Abschriften von Werken des Mathematikers. Antike Originale gibt es nicht mehr, weil die Papyrusrollen, auf denen Archimedes im 3. Jahrhundert v. Chr. seine Abhandlungen verfasste, längst zerstört sind. Texte aus der Antike wurden nur dann überliefert, wenn sie jemand in regelmäßigen Abständen abgeschrieben hat.
Seit der Spätantike wird geblättert, nicht gerollt
Archimedes schrieb seine Texte – meistens waren es Briefe an andere Gelehrte – auf Papyrusrollen. Dabei nutzte er ausschließlich Großbuchstaben, ohne Abstand zwischen den Wörtern und gänzlich ohne Interpunktion. Einige seiner Briefe landeten in der Bibliothek von Alexandria, dem größten Umschlagplatz für Wissen in der Antike.
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Doch auch dort waren die Schriften von Archimedes nicht auf Dauer sicher. Spätestens im 4. Jahrhundert kamen Papyrusrollen aus der Mode. Die Buchform, die man Kodex nannte, setzte sich durch. Antike Texte, die bis dahin nicht als Kodex vorlagen, verschwanden und gerieten in Vergessenheit. Glück hatten Autoren, die zu dieser Zeit bei den Schreibern und Lesern beliebt waren – sie wurden mehrfach abgeschrieben.
Nicht so Archimedes. Das wissen wir von Eutokios. Der Mathematiker kommentierte im 5. Jahrhundert die Abhandlungen von Archimedes und wies darauf hin, welche enormen Schwierigkeiten er hatte, an dessen Texte zu kommen. Doch dank Eutokios haben überhaupt viele Überlieferungen die Jahrhunderte überdauert, weil er neben den Kommentaren auch die Texte des Archimedes selbst abgeschrieben hat.
Von Archimedes sind nur drei Bücher mit Texten überliefert
War dank Eutokios eine Gefahr gebannt, ließ das nächste Unglück der antiken Buchkultur nicht auf sich warten. Denn mit der Antike gingen auch die meisten Bibliotheken zu Grunde. Die wichtigsten Schreiber und Kopisten saßen nun in den christlichen Klöstern – und ihr Interesse an Archimedes war ziemlich gering. Es sind daher nur drei Kodizes mit Archimedes-Texten überliefert. Alle drei waren im 9. und 10. Jahrhundert kopiert worden und stammen aus Konstantinopel, dem heutigen Istanbul. Forscher verpassten ihnen später recht kreative Namen: Kodex A, B und C.
Es gibt natürlich Übersetzungen. Archimedes war ins Lateinische und später ins Arabische übertragen worden. Aber von den Abschriften der griechischen Originaltexte haben lediglich drei Bücher ihren Weg bis ins Mittelalter gefunden. Dann ging zuerst Kodex B verloren – das letzte Mal wurde das Buch im Jahr 1311 erwähnt, als Teil einer päpstlichen Bibliothek. Kodex A war damit über Jahrhunderte die wichtigste Referenz zu Archimedes, verschwand aber ebenfalls nach 1564.
Und Kodex C? Das Buch blieb zunächst verschollen. Kodex C enthielt sieben Abhandlungen von Archimedes und bestand aus Pergament. Dabei handelt es sich um präparierte Tierhaut. Texte lassen sich davon gut abschaben und so die Seiten wiederverwenden. Und genau das ist 1229 mit dem Buch passiert.
Kodex C, das berühmteste Palimpsest der Geschichte
Ein Geistlicher in Jerusalem – wie Kodex C genau von Konstantinopel dorthin kam, ist unbekannt – hat das Buch zerlegt, die einzelnen Blätter mit Säure eingerieben und anschließend den Text mit einem Stein abgeschliffen. Dann hat er die Seiten in der Mitte durchgeschnitten, um 90 Grad gedreht und in der Mitte gefaltet, bevor er die Seiten neu beschriftete. Diesmal mit christlichen Gebeten. Aus Kodex C war nun ein Palimpsest geworden. Wer genau hinsah, konnte im Hintergrund jedoch Zeichnungen und Sätze der Archimedes-Abhandlungen erkennen.
Die nächste bekannte Station des Palimpsests ist ein Kloster in der Nähe von Bethlehem. Doch einige Jahrhunderte später tauchte das Buch wieder in Konstantinopel auf. Wann und wie es dort hinkam, auch dazu gibt es keine Überlieferungen. Aber um 1840 findet sich ein Hinweis, dass es sich in der Bibliothek des Metochion der Jerusalemer Grabeskirche in Konstantinopel befand. Von da an dauerte es nicht mehr lange bis zur Entdeckung: Heiberg fand das Palimpsest, entzifferte den Großteil des griechischen Textes von Archimedes und publizierte seine Entdeckung. Außerdem machte Heiberg Fotos vom Palimpsest, was sich als wichtig herausstellte – kurze Zeit später verschwand das Buch nämlich schon wieder im Dunkel der Geschichte.
Vom Schimmel befreit, findet Archimedes den Weg ins Internet
Das Werk landete schließlich in Paris, wo es einige Jahrzehnte in einem Keller vor sich hin schimmelte. Als das Palimpsest im Oktober 1998 in einem New Yorker Auktionshaus versteigert wurde, war es in einem äußerst schlechten Zustand und kaum noch zu gebrauchen.
Dennoch fanden sich zwei Bieter, die das Buch unbedingt ersteigern wollten: das griechische Kulturministerium und ein bis heute unbekannter Amerikaner, der schließlich für zwei Millionen US-Dollar den Zuschlag erhielt. Ihm ging es tatsächlich darum, das Buch zu retten und zu erhalten. Daher stellte er es der Forschung zur Verfügung, indem er es kurz nach dem Kauf ins Walters Art Museum in Baltimore brachte. Zehn Jahre lang haben es Fachleute dort unter Leitung von William Noel restauriert, von Schimmel und Kleber befreit und schließlich mit aufwändigen bildgebenden Verfahren digitalisiert. Dadurch gelang es, den Großteil des Textes zu rekonstruieren und wieder lesbar zu machen. Gemeinsam mit Reviel Netz hat William Noel die abenteuerliche Geschichte des Palimpsests im Buch »Der Kodex der Archimedes« aufgeschrieben.
So kam es also, dass die Entfernung von Archimedes' Text im Jahr 1229 zu dessen Überlieferung beitrug. So weit, dass das vielleicht berühmteste Palimpsest der Geschichte inzwischen hoch aufgelöst im Internet zur Verfügung steht. Ein faszinierendes Beispiel dafür, wie viele Zufälle nötig waren, damit das Wissen aus der Antike die Jahrtausende überdauern konnte.
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