Hemmer und Meßner erzählen: Kleine Geschichte eines Weltwunders, das wohl ganz woanders stand
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Die sieben Weltwunder der Antike faszinieren bis heute. Allerdings ist bei einem davon nicht gesichert, wo es einst lag – oder ob es überhaupt existiert hat: die Hängenden Gärten von Babylon. Sie sind ein Mysterium, das auch im 21. Jahrhundert noch nicht gelöst zu sein scheint. Eine Assyriologin von der University of Oxford ist aber überzeugt, den tatsächlichen Standort gefunden zu haben.
Dazu ist wichtig zu wissen: Was sind eigentlich die sieben Weltwunder? Die Liste stammt aus der griechischen Literatur der Antike. Die Idee dahinter war, die bemerkenswertesten vom Menschen geschaffenen Strukturen aus der bekannten Welt zu katalogisieren. Was die Zahl angeht, so könnte die sieben auf das alte Mesopotamien zurückgehen, wo die Zahl grundsätzlich eine große Bedeutung hatte: als Anzahl der Himmel und Erden, der Tore zur Unterwelt und jener sieben Weisen, die der Menschheit die Zivilisation brachten. Natürlich gehört dazu auch die Zahl der Himmelskörper: der Sonne, des Mondes und der fünf größten Planeten. Die antike griechische Tradition, sieben Wunder aufzulisten, könnte daher erstmals entstanden sein, als viele Makedonier und Griechen in Mesopotamien verweilten. Sie waren ursprünglich mit Alexander dem Großen als Soldaten und Verwalter im späten 4. Jahrhundert v. Chr. in die Region gekommen.
Die Idee der sieben Weltwunder erwähnte als Erster der griechische Dichter Antipatros von Sidon, der im 2. Jahrhundert v. Chr. lebte. Er listete sechs der sieben Wunder auf: die Pyramiden von Giseh, die Hängenden Gärten von Babylon, die Statue des Zeus in Olympia, den Tempel der Artemis in Ephesos, das Mausoleum von Halikarnassos und den Koloss von Rhodos. Statt des Leuchtturms von Alexandria, den wir heute als eines der sieben Weltwunder kennen, enthielten die früheren Listen noch die Mauern von Babylon. Erst im Lauf der Jahrhunderte wurden diese durch den Leuchtturm ersetzt.
Ein monumentaler Garten für die Gattin
Was hat es aber nun mit diesen Hängenden Gärten auf sich? Der griechische Geschichtsschreiber Diodorus Siculus aus dem 1. Jahrhundert v. Chr. hinterließ mit seiner »Historischen Bibliothek« nicht nur eine umfangreiche Universalgeschichte in 40 Büchern, sondern liefert im zweiten Buch auch folgende Passage über die Stadt Babylon: »Es war ein aufsteigender, viereckiger Steinhaufen, der das Aussehen eines Theaters hatte. Auf allen Anstiegen befanden sich Gewölbe, die geräumige und prächtige Räume enthielten, und auf der obersten Terrasse standen große und schöne Bäume. Die Wasserwerke hoben das Wasser in großer Menge aus dem Fluss, obwohl es niemand außerhalb sehen konnte.«
Diodorus war nicht der Einzige, der über dieses Bauwerk berichtete. Auch der Geschichtsschreiber Flavius Josephus (etwa 37/38–100 n. Chr.) beschreibt in seinem Werk »Jüdische Altertümer« eine ähnliche Konstruktion: »Als er so Babylon befestigt und mit prächtigen Toren versehen hatte, erbaute [Nebukadnezar II.] einen mit der Königsburg seines Vaters zusammenhängenden Palast, dessen Höhe und glanzvolle Ausstattung zu beschreiben ich mir wohl ersparen kann. Doch darf nicht unerwähnt bleiben, dass er trotz seiner gewaltigen Ausdehnung schon in 15 Tagen vollendet war. Bei diesem Palaste ließ er aus Steinen Anhöhen errichten, denen er die Gestalt von Bergen geben und die er mit allerlei Bäumen bepflanzen ließ. Ferner legte er einen so genannten hängenden Garten an, weil seine Gattin, die aus Medien stammte, danach verlangte, da das bei ihr zu Hause üblich war.« Laut Josephus ließ also Nebukadnezar II., der von 640 bis 562 v. Chr. lebte, das Bauwerk errichten, damit sich seine Frau an ihre grüne Heimat erinnern könne.
Welch schöne Beschreibungen dieser komplexen Anlage. Doch es gibt ein Problem damit: Wir wissen nicht, ob sich diese Gärten tatsächlich in Babylon befunden haben. Das liegt an den Schriftquellen selbst. Wie so oft in der Antike wurde auch hier fleißig kopiert. Der vorhin erwähnte Diodorus orientierte sich an Texten des Griechen Ktesias (um 400 v. Chr.) und eines gewissen Kleitarchos (um 300 v. Chr.). Flavius Josephus' Quellen waren die biblische Geschichte über den Turmbau zu Babel und die Aufzeichnungen eines gewissen Berossos, der in Babylon um 300 v. Chr. unter den seleukidischen Königen gedient hatte.
Die Gärten müssen Teil der Palastanlage des assyrischen Königs Sanherib gewesen sein
Was allerdings noch schwerer wiegt, ist das komplette Fehlen babylonischer Texte, die Bezug auf die Gärten nehmen. Das wäre aber bei einem solchen Großprojekt zu erwarten, nicht zuletzt, weil es eine Unmenge an Aufzeichnungen über jene Bauten gibt, die Nebukadnezar II. anlegen ließ. Warum also nichts über die Gärten? Bei Ausgrabungen in Babylon, das etwa 85 Kilometer südlich von Bagdad im heutigen Irak liegt, kamen zwar mögliche Baureste ans Licht, doch es fand sich wenig Schlüssiges, um den Standort sicher zu lokalisieren.
Nicht in Babylon, sondern in Ninive!
Bereits in den 1990er Jahren kam daher eine neue Theorie auf, wo sich die Hängenden Gärten der Semiramis befunden haben könnten: nämlich nicht in Babylon, sondern in Ninive. Diese prächtige Metropole war einst die Hauptstadt des Assyrischen Reichs, einem der mächtigsten Reiche im Vorderen Orient im 7. und 6. Jahrhundert v. Chr. Ninive lag am Ostufer des Tigris, im heutigen Nordirak, nahe der modernen Stadt Mossul.
Federführend bei dieser Theorie war die britische Assyriologin Stephanie Dalley, die ihre Schlüsse in dem Buch »The Mystery of the Hanging Gardens of Babylon« veröffentlichte. Als sie die Originalquellen zu den Gärten durchforstete, fielen ihr Ungereimtheiten auf. Falsche Übersetzungen, insbesondere des griechischen Textes von Berossos, trugen ihrer Ansicht nach zur Annahme bei, dass die Hängenden Gärten in Babylon lagen. So gab es zum Beispiel für die griechischen Passagen über die Hängenden Gärten keine passenden Entsprechungen im babylonischen Original des Berossos. Dalley wertete das als Hinweis darauf, dass ein späterer Schreiber sie hinzugefügt hatte, um seinem Publikum ein zusätzliches Wunder der mesopotamischen Metropole zu bieten.
Nach weiterem sorgfältigem Studium kam Dalley also zu dem Schluss, dass sich die Gärten in Ninive befunden haben müssen. Für die Forscherin war nämlich klar: Die Gärten müssen Teil der Palastanlage des assyrischen Königs Sanherib gewesen sein. Der lebte zwar ungefähr 100 Jahre vor Nebukadnezar II., doch lässt es sich wahrscheinlich machen, dass Sanherib, der mit seinen Reformen Ninive zur größten und mächtigsten Stadt in der Region gemacht hatte, in den Übersetzungen der Originalquellen für Nebukadnezar II. gehalten wurde.
Wie die Archäologie half, die Hängenden Gärten zu finden
Weitere Indizien fand Dalley in Grabungsberichten. Hormuzd Rassam, der einstige Chefarchäologe von Ninive und Entdecker der berühmten Gilgamesch-Tontafeln, hatte Wandreliefs geborgen, die Gärten mit einer dreibogigen Brücke zeigen. (Das British Museum zeigt das eine Relief in seiner Onlinesammlung und vom anderen gibt es eine Umzeichnung.) Rassam identifizierte eine Darstellung als die Gärten von Babylon, nicht zuletzt, weil das Bild Ähnlichkeiten mit den Beschreibungen in der antiken Literatur aufweise.
Dass der Palast von Ninive einen solch extravaganten Garten beherbergte, würde jedoch mehr Sinn ergeben, denn die Anlage hatte es in sich. Sanheribs Ingenieure hatten ein umfangreiches und gut durchdachtes Bewässerungssystem entworfen, bestehend aus Kanälen, einem Wehr, einem Tunnel, einem Damm und einem brückenartigen Aquädukt mit Steinbögen. Damit wurde Wasser zu den Gärten, Obstgärten und Feldern rund um Ninive geleitet. Darüber hinaus versorgte das System nicht nur den königlichen Garten mit Wasser, sondern verbesserte auch die Versorgung mit Lebensmitteln und Trinkwasser für alle Einwohner der Stadt.
Stephanie Dalley geht davon aus, dass für die Bewässerung des erhöhten Gartens eine archimedische Schraube verwendet wurde – 400 Jahre bevor deren Namensgeber Archimedes, der heute als ihr Erfinder gilt, überhaupt geboren wurde.
Dalleys These, die hauptsächlich auf Indizien beruht, ist nicht unumstritten. Was nicht verwundert, denn es geht ja um Wissenschaft. Doch mehr ist zurzeit leider nicht zu erwarten. Auch weil die wissenschaftlichen Arbeiten in Ninive um Jahrzehnte zurückgeworfen wurden – als der so genannte Islamische Staat 2016 einen nicht unerheblichen Teil der Anlage plünderte und zerstörte.
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