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Hemmer und Meßner erzählen: Kleine Geschichte über den Eiskönig von Boston

Ein kühles Getränk im Sommer? Das war vor mehr als 200 Jahren purer Luxus. Bis Frederic Tudor sich aufmachte, die Welt mit Natureis zu beliefern, wie unsere Kolumnisten erzählen.
Arbeiter in einer Eisfabrik, um 1935.
Arbeiter stapeln Stangeneis in einer Eisfabrik um 1935. Bevor es elektrische Kühlschränke gab, nutzte man Eisblöcke, um verderbliche Lebensmittel zu kühlen.
Die beiden Historiker Richard Hemmer und Daniel Meßner bringen jede Woche »Geschichten aus der Geschichte« auf ihrem gleichnamigen Podcast. Auch auf »Spektrum.de« blicken sie mit ihrer Kolumne in die Vergangenheit und erhellen, warum die Dinge heute so sind, wie sie sind.
Alle bisherigen Artikel der Kolumne »Hemmer und Meßner erzählen« gibt es hier.

Nicht einmal Spott und Häme brachten Frederic Tudor von seinem Plan ab. Am 13. Februar 1806 stach er mit seinem Schiff von Boston aus an der US-Ostküste in See. Sein Ziel war Saint-Pierre, eine Stadt auf der Karibikinsel Martinique. An Bord hatte Tudor eine Fracht von 130 Tonnen geladen. 130 Tonnen desselben Guts: Eis, das aus einem See in Neuengland geschlagen worden war. Den eiskalten Cargo wollte Tudor in der Karibik verkaufen. Zumindest was davon nach 21 Tagen Überfahrt noch übrig sein würde. Denn auf Martinique war es tropisch warm.

Für seine Idee, Eis aus Nordamerika in die Karibik zu verschiffen, erntete Tudor von allen Seiten Hohn. Und seine Kritiker fühlten sich bestätigt: Der Eisverkauf in Saint-Pierre wurde zum finanziellen Desaster. Ohne geeignetes Lager schmolz die Fracht schneller, als Tudor sie unter die Leute bringen konnte. Aber das bedeutete nicht das Ende der Tudor Ice Company!

Vor der Erfindung der Kältemaschinen war Natureis die einzige Möglichkeit, im Sommer Nahrungsmittel zu kühlen. Das meiste Eis verbrauchten dabei lange Zeit die Brauereien. Sie kühlten damit ihr Bier und ihre Braukessel – denn nur bei niedrigen Temperaturen konnten sie untergäriges Bier brauen. Mit natürlichem Eis konservierte man nicht bloß in gemäßigten Klimazonen Lebensmittel. Das gelang auch in warmen Regionen. Aus Persien sind zum Beispiel kuppelartige Gebäude bekannt, die so genannten Yach-tschāl (zu Deutsch Eisgrube), die seit dem 6. Jahrhundert v. Chr. zur Aufbewahrung von Eis dienten. Im Römischen Reich legte man dafür mehrere Meter tiefe Eisschächte an (»fossa nivalis«) und befüllte sie mit Schnee und Eis der Albaner Berge.

Überall dort, wo es im Winter Eis und Schnee gab, versuchten Menschen schon seit Jahrtausenden, die Kälte in den Sommer hinüberzuretten. Je nach Region gab es daher verschiedene Methoden, das Natureis zu gewinnen. Die einen schlugen es aus einem gefrorenen See, die anderen brachen es aus Gletschern und brachten es mit Holzrutschen ins Tal. Eiswerk nannte sich diese Form der Eisernte.

Der Eiskönig | Frederic Tudor baute im 19. Jahrhundert in den USA ein Eishandelsimperium auf. Das Porträt des Malers Francis Alexander zeigt den Unternehmer um 1830.

Der Gründer der Tudor Ice Company hatte das Eiswerk also nicht erfunden. Allerdings ist vor ihm niemand auf die Idee gekommen, das Eis tausende Kilometer weit zu transportieren. Damit hatte er ein neues Geschäftsfeld etabliert. Der Beginn des internationalen Handels mit Natureis kam jedoch nicht zufällig, er fiel mit einem steigenden Bedarf während der Industrialisierung zusammen. Die wachsenden Städte brauchten frische Lebensmittel wie Fleisch, Milch, Butter oder Fisch, die gekühlt über größere Distanzen transportiert werden konnten. Dadurch wurden verderbliche Lebensmittel in den Städten überhaupt erst in großen Mengen verfügbar – ohne sie durch Pökeln, Räuchern oder Einkochen haltbar machen zu müssen.

Tudor schickte Eis nach Kuba

Frederic Tudor kam 1783 in Boston zur Welt und wuchs in einer wohlhabenden Familie auf, als Teil der städtischen Oberschicht. Zum Anwesen seiner Familie gehörte auch ein Eishaus, das im Winter mit Eis aus einem Teich befüllt wurde. Sein Vater war ein angesehener Anwalt, der für seine Söhne ein Studium in Harvard vorgesehen hatte. Frederic sollte die Hochschule ebenfalls besuchen, doch der Junge hatte schon früh andere Pläne. 1805 schließlich fasste er den Entschluss, Eis in der Karibik zu verkaufen.

Ohne sich je mit Kühl- und Lüftungssystemen von Eishäusern beschäftigt oder den Transport getestet zu haben, legte er los. Er kaufte eine Brigg und engagierte Arbeiter, um 130 Tonnen Eis aus einem kleinen See auf dem Landgut seiner Familie zu sägen. Tudor ließ die Blöcke mit Sägespänen isolieren und verschiffte sie nach Martinique. Dort versuchte er, das Eis direkt vom Schiff für 16 Cent pro Pfund zu verkaufen. Wie erwähnt mit bescheidenem Erfolg: Ein Großteil des gefrorenen Guts erreichte den Hafen als Wasser.

Der Eiskönig ließ sich davon nicht abschrecken und plante für die nächste Eissaison eine Überfahrt nach Havanna auf Kuba. Diesmal sollte dort allerdings vorab ein Eishaus gebaut werden. Und statt mit dem eigenen Schiff loszulegen, überzeugte er andere Reeder, die häufig ohne Fracht, nur mit Steinen beladen, in die Karibik fuhren, dafür lieber sein Eis zu transportieren. Tudors Umsatz stieg zwar allmählich, dennoch geriet er in finanzielle Schwierigkeiten. Immer wieder musste er sich Geld leihen, um das Geschäft am Laufen zu halten. Er machte Schulden, die er bald nicht mehr zurückzahlen konnte. Ende 1809 stand dann ein Sheriff vor seiner Tür. Tudor wurde verhaftet und ins Bostoner Schuldgefängnis gesperrt. Es sollte nicht sein letzter Aufenthalt im Gefängnis bleiben, 1812 und 1813 verbrachte er ebenfalls einige Zeit in Haft.

Ausgebremst durch ein Handelsembargo

Die Situation war für Tudor aussichtslos – aber es kam noch schlimmer. Der Eishandel war spätestens 1810 völlig eingebrochen. US-Präsident Thomas Jefferson (1743–1826) hatte ein Handelsembargo erlassen, das zeitweise sämtlichen US-Häfen den Außenhandel verbot – lediglich entlang der amerikanischen Küsten durften Schiffe verkehren. Damit sollten Großbritannien und Frankreich gezwungen werden, die Neutralität der USA während der Koalitionskriege gegen Napoleon anzuerkennen.

Tudor konzentrierte deshalb sein Eisgeschäft auf den Süden der USA und belieferte nun Städte wie Charleston oder New Orleans. Trotzdem gab er die Idee des Eishandels mit der Karibik nie völlig auf. Doch als 1815 wieder eine Verhaftung bevorstand, lieh er sich 2000 Dollar und flüchtete kurzerhand aus Boston nach Havanna.

Zehn Jahre lang hatte er versucht, Natureis aus Neuengland in der Karibik zu verkaufen, und fuhr dafür nur Spott und Schulden ein. Doch zu guter Letzt, in den 1820er Jahren, wendete sich das Blatt zu seinen Gunsten. Er hatte ein spezielles Eishaus aus Holz entwickelt, dessen Schalenwände mit Sägespänen gefüllt wurden. Seine Kühlhäuser standen bald nicht nur in der Karibik, sondern auch in Boston und entlang des Hudson River bis New York. Zur Erntezeit, zwischen Januar und März, wurden sie mit frischem Eis befüllt. Die Ernte zog Tudor zudem professioneller auf: Er ließ Teiche anlegen und führte Geräte wie den Eispflug ein. Aus dem Eishandel hatte der Mann aus Boston eine eigene internationale Industrie gemacht.

Tudors Handelsimperium belieferte die Welt mit Eis

Der Unternehmer baute über die Jahre ein riesiges Handelsnetz auf, das fast die ganze Welt umspannte. Aus Boston belieferte er mehr als 50 Häfen mit gefrorenem Wasser. Es gab Routen von Boston in den Süden der USA, nach Südamerika, in die Karibik, nach Afrika und sogar bis nach Hongkong. 1833 fuhr eines seiner Schiffe erstmals nach Indien. Tudor führte als weltweit Erster ein globales Eisimperium. Damals war Natureis das wichtigste Handelsgut der Neuenglandstaaten, wie der Journalist Gavin Weightman (1945–2022) in seinem Buch »The Frozen Water Trade« schrieb. Nur in Europa gelang es Tudor nie, Fuß zu fassen. Denn dort beherrschte Norwegen den Eismarkt. Von Kragerø aus wurde das Eis nach England, Deutschland und Frankreich transportiert.

1864 starb Frederic Tudor im Alter von 80 Jahren in Boston. Er sollte nicht mehr erleben, wie der Handel mit Natureis versiegte. Die Erfindung von Kältemaschinen, etwa durch den Ingenieur Carl von Linde, ermöglichte es, Wasser künstlich zu gefrieren. Zwar wurde Eis weiterhin verhandelt, allerdings wurde es fortan in Fabriken produziert und nicht mehr im Winter geerntet oder über tausende Kilometer verschifft. Aus dem Luxusgut war etwas Alltägliches geworden, das nun weite Teile der Bevölkerung auch über die Wintermonate hinaus nutzen konnten. Kühlgeräte für Privathaushalte setzten sich erst später durch, in Deutschland flächendeckend in den 1950er Jahren. Bis dahin waren Eisschränke üblich. Sie wurden mit Stangeneis aus der Fabrik gekühlt, das der Eismann lieferte.

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