Hemmer und Meßner erzählen: Kleine Geschichte über zwei Substanzen, die die Welt veränderten
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Im Juni 1898 meldeten die Farbenfabriken Bayer beim kaiserlichen Patentamt in Berlin eine neue Marke an: Der Werkschemiker Felix Hoffmann hatte 1897 Diacetylmorphin hergestellt. Ein Hustenmittel, das auch gegen Schmerzen helfen sollte. Zweifellos hat Diacetylmorphin eine schmerzstillende Wirkung, es macht allerdings auch hochgradig abhängig. Es ist ein Opioid und heute besser bekannt unter seinem Handelsnamen, den sich Bayer beim Patentamt sichern ließ: Heroin. Als neues Wundermittel weckte es damals in der Medizin große Hoffnungen, doch seine viel versprechenden Wirkungen beruhten auf einem groben Studienfehler.
Damals, 1897, synthetisierte Felix Hoffmann (1868–1946) innerhalb von elf Tagen nicht nur Diacetylmorphin, sondern noch eine weitere Substanz, die die Welt verändern sollte: reine Acetylsalicylsäure, besser bekannt unter dem Markennamen Aspirin. Acetylsalicylsäure sollte zum meistgenutzten Medikament der Welt werden, während Diacetylmorphin zum meistmissbrauchten Opioid und zur tödlichsten Droge der Welt wurde.
Menschen konsumieren seit Jahrtausenden Stoffe, um sich zu berauschen, doch die Lage änderte sich im 19. Jahrhundert massiv: Die noch junge chemische Industrie entwickelte zahlreiche neue Substanzen – neue Rauschmittel wie Heroin, Kokain oder Amphetamine kamen daher meist aus der pharmazeutischen Forschung. Die Stoffe standen nicht nur in großen Mengen und in Reinform zur Verfügung, sondern sie konnten seit der Einführung der Injektionsspritze auch ohne Umwege über den Verdauungstrakt direkt in die Blutbahn gebracht werden. Die Drogen entwickelten somit ein viel stärkere Wirkung.
Von der Farbe zur Arznei
Dass Heroin und Aspirin bei den Farbenfabriken entwickelt wurden, war kein Zufall. Einige Arzneimittelhersteller jener Zeit gingen aus der Farbindustrie hervor. Der Unternehmer Friedrich Bayer (1825–1880) war Farbstoffhändler, gründete 1863 die Firma Friedr. Bayer & Co. und stellte Farben auf Basis von Steinkohlenteer her. Dieser fällt als Nebenprodukt bei der Gewinnung von Koks an, woraus sich ebenfalls Farbstoffe machen lassen.
Ein Bestandteil von Steinkohlenteer ist Anilin. Hier kam nun die Pharmazie ins Spiel. Denn bei der Farbstoffgewinnung fielen Substanzen an, die sich für Medikamente nutzen ließen. So auch das Anilin-Derivat Phenacetin: Es war das erste Medikament der Farbenfabriken, das 1887 auf den Markt kam und eine fiebersenkende Wirkung hatte. Die Arzneimittelherstellung war so erfolgreich, dass Bayer bald schon eine eigene pharmazeutische Abteilung einrichtete, für die ab 1894 auch Felix Hoffmann arbeitete. In den folgenden Jahren war diese Abteilung enorm produktiv. Bis 1902 hatten sie 48 Arzneimittel im Verkauf, darunter Diacetylmorphin.
Die Ausgangssubstanz für Heroin ist Opium. Das Rausch- und Betäubungsmittel wird aus dem Milchsaft von Schlafmohn gewonnen und besteht aus mehreren Alkaloiden, also in der Natur vorkommenden chemischen Verbindungen. Das wichtigste davon in Opium ist Morphin, das bereits Anfang des 19. Jahrhunderts entdeckt wurde. Der Apotheker Emanuel Merck stellte es dann ab 1826 erstmals in größeren Mengen her. Bald ergab sich allerdings ein Problem: Wie sich zeigte, wirkt Morphin nicht nur schmerzstillend, sondern es macht auch schnell abhängig. Genau darauf stürzte sich aber die neu entstandene chemisch-pharmazeutische Industrie.
Heroin, im 19. Jahrhundert als Wundermittel gefeiert
Die Wissenschaftler setzten damals große Hoffnungen in die Methode der Acetylierung – und dafür eignete sich besonders Essigsäureanhydrid. Die Chemiker stellten fest, dass dieser Stoff viele Substanzen verträglicher machte. Hoffmann wendete also im August 1897 Essigsäureanhydrid auf Salicylsäure und Morphin an und wandelte so die Stoffe jeweils zu Acetylsalicylsäure und Diacetylmorphin um. Dabei war er nicht der Erste, dem es gelang, aus Morphin Diacetylmorphin herzustellen, doch keiner vor ihm schenkte der Substanz größere Aufmerksamkeit. Das sollte sich nun ändern.
»Ungünstige Nebenwirkungen scheinen dem Präparat nicht anzuhaften«Theobald Floret, Werksarzt von Bayer, 1898 über Heroin
Der Leiter des pharmakologischen Laboratoriums bei den Farbenfabriken, Heinrich Dreser (1860–1924), begann nämlich damit zu experimentieren und war schnell davon überzeugt, ein neues medizinisches Wundermittel in der Hand zu haben. Es erhielt den Namen Heroin. Und weil sich damit sehr gut Hustenreiz stillen ließ, kam Heroin als »Atmungssedativum« in den Handel – und verbreitete sich schnell in weiten Teilen der Welt. Bald fanden sich auch immer mehr Anwendungsbereiche, bei etwa 40 Indikationen sollte die Substanz hilfreich sein. So wurde es bei psychischen Erkrankungen verabreicht, bei Schlafstörungen, Bluthochdruck und natürlich auch als Schmerzmittel. Allerdings wäre wohl all das nicht passiert, wenn Dreser in seinen Studien nicht die falschen Schlüsse gezogen hätte.
Der Pharmakologe schrieb, dass die Atmung durch die Einnahme von Heroin vertieft und verlangsamt würde, so dass die Atemzüge effektiver seien. Ein Befund, der sich als schwerer Irrtum herausstellen sollte, denn das Gegenteil ist der Fall, wie der Mediziner und Autor Michael de Ridder in seinem Buch »Heroin. Vom Arzneimittel zur Droge« erläutert. Die Atemfrequenz sinkt zwar durch die Einnahme von Heroin, aber tatsächlich kommt es zu einer Abnahme des Atemzugvolumens. Heroin hat wie alle Opium-Derivate eine atemdepressive Wirkung. Bei einer Überdosierung sterben Menschen an einer Atemlähmung.
Ein medizinisches Urteil mit Nebenwirkungen
Dreser nahm an, dass Heroin alle Vorteile von Morphin hätte, aber nicht abhängig machen würde. »Ungünstige Nebenwirkungen scheinen dem Präparat nicht anzuhaften«, resümierte auch 1898 der Werksarzt und Kollege Dresers bei den Farbenfabriken, Theobald Floret. »Bei der Anwendung des Heroins stellt sich ein krankhaftes Gelüste nach dem Mittel, wie beim Morphinismus, nicht ein«, lautete das Fazit in der Studie eines weiteren Kollegen. Eine interessante Beobachtung, denn inzwischen ist klar, dass Heroin zu den Substanzen mit dem vielleicht höchsten Suchtpotenzial überhaupt zählt.
Nur ein Jahr nachdem Felix Hoffmann erstmals Diacetylmorphin auf seinem Labortisch hergestellt hatte, standen bereits kleine Heroin-Flaschen in Apotheken zum Verkauf. Anders verhielt es sich bei Aspirin, bei dem Dreser zunächst wenig Potenzial erkannte und es deshalb erst 1899 auf den Markt bringen ließ. Und vielleicht auch nur, weil ihn der Laborchemiker Arthur Eichengrün dazu gedrängt hatte, sich die Acetylsalicylsäure genauer anzuschauen. Darüber, wer Aspirin erfunden hat, herrscht nämlich seit Langem eine Kontroverse: Jahrzehnte später, als Eichengrün im Getto Theresienstadt 1944 interniert war, behauptete er, er habe Aspirin erfunden, wie der Journalist Ulrich Chaussy in seiner Eichengrün-Biografie erläutert. Felix Hoffmann hätte nur das Experiment ausgeführt, die Planung und Koordination würden aber von ihm, Eichengrün, stammen. Außerdem hätte Dreser ohne sein Zutun die Acetylsalicylsäure nicht weiter beachtet, lautete Eichengrüns Vorwurf.
Vom Wundermittel zur Droge
Auch wenn sich die Streitfrage nicht mehr klären lässt, hat sich seither zumindest der Kenntnisstand über die Wirkweise von Acetylsalicylsäure radikal geändert. Heute ist Aspirin nicht mehr wegzudenken. Es gehört zu den weltweit erfolgreichsten Arzneimitteln überhaupt, während die Markenrechte für Heroin längst abgelaufen sind. Dabei war die Droge anfangs ein großer Erfolg für die Farbenfabriken. Bis 1913 konnten sie die Produktion auf 970 Kilogramm Heroin pro Jahr steigern und waren weltweit Marktführer. Hauptabnehmer waren damals die USA. Doch mit Beginn des Ersten Weltkriegs brach die Produktion ein und erreichte später nicht mehr das Vorkriegsniveau. Zudem hatte sich eine Anti-Opium-Bewegung formiert. Schon 1909 war auf Betreiben der USA in Schanghai die Internationale Opiumkommission gegründet worden. Damit begann die internationale Drogenpolitik, die den Grundstein für spätere Drogenverbote legte.
Es dauerte eine Weile, aber in der Zwischenkriegszeit setzte sich die Erkenntnis durch: Heroin hat ein hohes Missbrauchs- und Abhängigkeitspotenzial. Jetzt wurde aus dem Wundermittel und der Universalarznei eine Droge, deren Verbreitung es zu bekämpfen galt. Die Pharmaindustrie stellte deshalb auch immer weniger Heroin her. Die Folge: Es wanderte auf den Schwarzmarkt. 1940 beendeten die Farbenfabriken die Produktion dann endgültig. In Deutschland ist die Herstellung aber seit 2009 unter strengen Auflagen wieder erlaubt. Jedoch nur für medizinische Zwecke, nämlich die Therapie von Heroinabhängigen.
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