Hemmer und Meßner erzählen: Kleine Geschichte über Krawalle, die um Strohhüte tobten
Am 20. September 1925 meldete die »New York Times«: »Discard Date for Straw Hats Ignored by President Coolidge« – »Präsident Coolidge missachtet Datum, die Strohhüte abzusetzen.«
Die Überschrift verwundert vermutlich. Weshalb gibt es ein Datum, ab dem keine Strohhüte mehr getragen werden dürfen? Und warum ist es eine Schlagzeile in der größten Zeitung des Landes wert, dass der US-Präsident Calvin Coolidge diesen Termin ignoriert hat? Um das zu erklären, müssen wir uns die Geschichte der Hutmode genauer ansehen.
Jemandem geht der Hut hoch
Ursprünglich wurden Kopfbedeckungen getragen, um die wohl naheliegendste Funktion zu erfüllen: den Kopf, die Haare und die Kopfhaut vor Wind und Wetter zu schützen. Doch schon im alten Ägypten oder Rom hatte eine Kopfbedeckung auch eine symbolische Bedeutung – sie vermittelte den Status eines Menschen. Welchen Stellenwert Hüte in unserer Gesellschaft hatten, zeigt sich noch in diversen Redewendungen: Wir ziehen den Hut, wir haben den Hut auf, wir werfen den Hut in den Ring oder uns geht manchmal der Hut hoch.
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Ab dem Mittelalter wurde der Hut in den europäischen Gesellschaften als Statussymbol wichtig. Bald gab es für beinahe jede Schicht und jeden Beruf eine spezielle Art Kopfbedeckung. Ab dem 17. Jahrhundert dann entwickelte sie sich zu einem wichtigen modischen Merkmal. Sowohl für Männer als auch Frauen gab es Hüte mit teils bizarr anmutenden Formen, Verzierungen und Größen. In Europa wurde der hohe Zylinderhut zur standardmäßigen Kopfbekrönung, in den USA war es der Stetson, der nach seinem Hersteller benannte, wohl berühmteste Cowboyhut. Als Material verwendeten die Hutmacher meist Filz, aber auch Fell oder Leder. Doch ein Material, das schon lange zur Herstellung von Hüten verwendet worden war, wurde im 19. Jahrhundert in den USA besonders beliebt: Stroh!
Vor allem in den Sommermonaten trugen die Männer den kreisrunden, relativ flachen Boater neben dem beliebten Panamahut. Der Boater entwickelte sich Anfang des 20. Jahrhunderts zur beliebtesten Kopfbedeckung – nicht nur am Wasser, sondern auch in den Städten. Wenn es richtig heiß wurde, konnten Männer ihre dicken Filzhüte durch einen luftigen Strohhut ersetzen.
Das verbesserte die Lebensqualität – ohne Frage –, doch gab es eine wichtige Regel zu beachten: Während der Sommermonate war der Strohhut gern gesehen, doch ab einem gewissen Datum sollte er wieder durch den Filzhut ersetzt werden. Und zwar ab dem 15. September. An dieses Datum, den »Felt Hat Day«, erinnerten sogar die Zeitungen.
Jugendliche spielten den Trägern von Strohhüten Streiche
Kurz vor und an diesem »cut-off date« machten sich Jugendliche einen Spaß aus der Sitte. Sie schlugen den Männern die Strohhüte vom Kopf. Die Sache war harmlos, Ärger gab es deshalb nicht. Bis zum 13. September 1922. An diesem Tag schnippten ein paar Jugendliche in einem Stadtteil Manhattans namens Mulberry Bend Fabrikarbeitern die Strohhüte vom Kopf – und trampelten darauf herum. Es war der Beginn mehrtägiger Krawalle, die in die Geschichte als »straw hat riot« eingingen. Der US-Journalist Neil Steinberg beschreibt in seinem Buch »Hatless Jack – The President, the Fedora and the Death of the Hat«, was damals vorgefallen ist.
Die Jugendlichen hatten die Rechnung ohne eine Gruppe Hafenarbeiter gemacht. Die Männer hatten sich die Streiche nicht einfach gefallen lassen. Sie wehrten sich, schützten ihre Hüte – bis sich das Ganze zu einer veritablen Schlägerei hochschaukelte, die zu einer Massenschlägerei ausartete. Plötzlich war auf der Manhattan Bridge der gesamte Verkehr lahmgelegt. Nur das beherzte Einschreiten der Polizei beendete die Ausschreitungen, die einige der Ruhestörer festgenommen hatte.
Doch damit fanden die Krawalle kein Ende. Schon am nächsten Abend, es war der 14. September, begannen ganze Horden von Teenagern durch die Straßen zu ziehen – auf der Suche nach Männern mit Strohhüten. Bewaffnet mit Stöcken, verprügelten sie jeden Strohhutträger, der ihnen über den Weg lief. Laut Augenzeugenberichten sollen es bis zu 1000 Jugendliche gewesen sein, die nun marodierend entlang der Amsterdam Avenue, einer der Hauptverkehrsadern Manhattans, ihr Unwesen trieben.
Drei Tage lang Krawalle
Das Resultat des zweiten Krawalltags: mehrere Verletzte, die in diverse Krankenhäuser eingeliefert wurden, und eine Vielzahl an Jugendlichen, die festgenommen wurden. Die Polizei hatte an dem Abend erst relativ spät reagiert, obwohl angeblich sogar Polizisten in Zivil selbst Opfer der Antistrohhutmeute geworden waren.
Am nächsten Tag – es war der 15. September und damit »Felt Hat Day« – gingen die Unruhen weiter. Während viele der am Vorabend festgesetzten Jugendlichen noch vor dem Richter standen, zogen Horden von ihnen auf der Amsterdam Avenue los, um Männer mit Strohhüten zu verprügeln. Die Polizei Manhattans war jetzt zumindest vorbereitet und in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt. Am Abend des 15. September ereigneten sich dann turbulente Verfolgungsjagden, die erst später am Tag ihr Ende fanden.
Der dreitägige »straw hat riot« läutete das Ende der Tradition des Hutwechsels ein. In den darauf folgenden Jahren fand er zwar noch statt, aber wie die eingangs erwähnte Schlagzeile zeigt, nahm nur drei Jahre später nicht einmal der US-Präsident den »cut-off date« noch ernst. Grund für den Niedergang der Strohhüte war wohl auch der Börsencrash im Jahr 1929. Die Boater, die als Sinnbild der lässigen 1920er Jahre galten, wurden nun durch andere Hüte ersetzt, allen voran dem Panamahut, aber auch dem vom britischen König Edward VII. getragenen Homburger Hut.
Die Hutindustrie an sich sah sich ab der Mitte des 20. Jahrhunderts mit einem starken Rückgang konfrontiert. Immer seltener trugen Männer formelle Kleidung, legere Stile tauchten auf. Das wirkte sich auch auf die Manufakturen aus: In der Stadt Lindenberg, ehemals Huthauptstadt Deutschlands, wurden schon ab den 1930er Jahren etliche Manufakturen geschlossen.
Eine Entwicklung, die vielleicht nur diesen einen Vorteil hat: Wer heute die Amsterdam Avenue mit Strohhut auf dem Kopf entlangschlendert, muss keine Angst mehr davor haben, die Kopfbedeckung im Handgemenge mit übermütigen Jugendlichen zu verlieren.
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