Freistetters Formelwelt: Kleine Ursache - große Wirkung
Manche Formeln sehen aus wie Mathematik, sind aber genau genommen keine. Zum Beispiel dieser Ausdruck hier:
Die Objekte, die in dieser Gleichung beschrieben werden, sind keine Zahlen, sondern Bausteine des Atomkerns. Hier dargestellt ist der Beta-Plus-Zerfall. Dabei wandelt sich ein Proton in ein Neutron um, wobei gleichzeitig ein Positron und ein Elektron-Neutrino entstehen. Ausdrücke dieser Art findet man überall in der Atom-, Kern- und Teilchenphysik. In gewissem Sinn beschreiben sie das, was die Alchemisten des Mittelalters vergeblich bewerkstelligen wollten: die Umwandlung von Elementen.
Ein Atom besteht aus einem Atomkern, der aus Protonen und Neutronen aufgebaut wird, und einer Hülle aus Elektronen. Die Anzahl der Protonen bestimmt dabei, um welches chemische Element es sich handelt. Ein Atomkern mit zwei Protonen ist etwa immer Helium; Kohlenstoff dagegen hat immer sechs Protonen. Die Zahl der Neutronen im Atomkern eines Elements kann dagegen variieren. Ein Kohlenstoffatom mit sechs Protonen und sechs Neutronen wird als Kohlenstoff-12 bezeichnet und stellt mit 98,9 Prozent die überwiegende Mehrheit aller vorhandener Kohlenstoffatome dar. Es gibt aber auch Kohlenstoff, der acht Neutronen in seinem Kern besitzt und daher Kohlenstoff-14 oder kurz C14 genannt wird. Dieses Isotop des Kohlenstoffs ist allerdings nicht stabil. Es ist radioaktiv und zerfällt mit einer Halbwertszeit von 5730 Jahren.
Es zerfällt deswegen, weil sich ein Neutron in seinem Atomkern in ein Proton umwandelt und dabei ein Elektron und ein Antineutrino abgibt. Das ist genau die Umkehrung des Prozesses, der in der Gleichung weiter oben beschrieben wird – ein Beta-Minus-Zerfall. Da der Atomkern nach dem Zerfall nun sieben anstatt sechs Protonen besitzt, handelt es sich nicht mehr um Kohlenstoff, sondern um Stickstoff: Ein chemisches Element hat sich in ein anderes umgewandelt.
Die Kraft, die für den radioaktiven Zerfall von Elementen verantwortlich ist, bleibt uns im Alltag verborgen. Es handelt sich um die schwache Kernkraft, die nur auf sehr kurzen Distanzen wirksam ist. Im Gegensatz zur Gravitation oder dem Elektromagnetismus, deren Reichweite unendlich groß ist und deren Auswirkungen wir jeden Tag am eigenen Körper spüren können, wirkt die schwache Kernkraft nur auf den winzigen Skalen der Atomkerne.
Aber auch wenn die schwache Kernkraft im Verborgenen wirkt, ist sie für unsere Existenz trotzdem unerlässlich. Denn ohne den Betazerfall würde unsere Sonne nicht scheinen. Damit unser Stern in seinem Inneren Licht und Wärme freisetzen kann, muss dort Wasserstoff zu Helium fusioniert werden. Bei dieser Reaktion muss im ersten Schritt aus zwei Wasserstoffatomkernen der Kern eines Deuteriumatoms entstehen. Wasserstoff ist das simpelste chemische Element; sein Atomkern besteht nur aus einem einzigen Proton. Deuterium dagegen ist ein Isotop des Wasserstoffs, das neben dem Proton auch ein Neutron besitzt.
Aus den zwei Protonen von zwei Wasserstoffatomkernen kann also nur dann der Kern eines Deuteriumatoms entstehen, wenn eines der beiden Protonen sich in ein Neutron umwandelt. Genau das passiert beim Beta-Plus-Zerfall. Würde dieser Zerfall nicht stattfinden, dann könnte im Inneren der Sonne auch kein Deuterium entstehen, das dann in weiterer Folge bei weiteren Reaktionen zu Helium fusioniert. Weil die schwache Kernkraft so schwach ist, läuft der Beta-Plus-Zerfall dabei sehr langsam ab. Aber genau das ist gut für uns, denn nur deswegen kann die Sonne so lange leuchten. Sie setzt schon seit 4,5 Milliarden Jahren Energie frei und wird das mindestens noch weitere 5 bis 6 Milliarden Jahre tun.
Ohne die schwache Kernkraft und den radioaktiven Betazerfall wäre es bei uns auf der Erde schon lange dunkel geworden.
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