Warkus' Welt: Können Viren sterben?
Liest man die Nachrichten zur Covid-19-Pandemie, kommen sie einem immer wieder in die Quere: die »abgetöteten Viren«. Mal wird diskutiert, unter welchen Bedingungen das Virus überlebt und unter welchen nicht, mal, ob man mit »abgetöteten Viren« möglicherweise bald einen Impfstoff produzieren könnte. Es reicht ein bisschen Wissen aus der Schulbiologie, um darüber zu stolpern: Was heißt denn abgetötet? Haben wir nicht gelernt, dass Viren gar keine Lebewesen sind? Wie kann man töten, was nicht lebt?
Recherchiert man, ob Viren nun leben oder nicht, findet man oft abwägende Erläuterungen, die damit zu tun haben, dass es faktisch verschiedene konkurrierende Definitionen des Begriffs »Lebewesen« gibt. Eine (und zwar jene, die ich selbst in der Schule gelernt habe) besagt, dass ein Lebewesen etwas ist, was Stoffwechsel treibt, sich bewegt und sich fortpflanzt. Unser damaliger Lehrer fing direkt den Einwand ab, Pflanzen seien nach dieser Definition keine Lebewesen: Auch das zielgerichtete Wachstum von Pflanzen sei Bewegung.
Ein Virus ist demzufolge hingegen kein Lebewesen. Es bewegt sich nicht, wächst nicht, treibt keinen Stoffwechsel, und fortgepflanzt wird es durch Wirtszellen, nicht eigenständig. Ein beliebtes Gedankenexperiment zum Lebensstatus von Viren zieht Parallelen zu Autos: Akzeptierte man, dass Viren Lebewesen sind, dann müssten es Autos auch sein – und zwar in noch größerem Maße, denn Autos bewegen sich und treiben Stoffwechsel.
Kann man den Status als Lebewesen erben?
Ein in letzter Zeit aufgekommener Einwand gegen die These, Viren seien keine Lebewesen im engeren Sinne, beruht auf ihrer Abstammung: Es gibt Hinweise darauf, dass Viren evolutionär auf einzellige Vorfahren zurückgehen, die Stoffwechsel trieben und sich eigenständig fortpflanzten. In dieser Argumentation steckt die implizite Definition, »ein Lebewesen ist alles, was von einem Lebewesen abstammt«.
Ich sage gerne: Streitet man sich in einer Naturwissenschaft über eine Begriffsdefinition, dann wittert die Philosophie einen Antrag bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). So ist es auch hier. Am Virus zeigt sich eine Uneinigkeit darüber, was biologisches Leben eigentlich genau ist.
Am Virus zeigt sich eine Uneinigkeit darüber, was biologisches Leben eigentlich genau ist
Nun kann man solche Konflikte damit abtun, dass man sagt: Leben ist eben das, womit sich die Biologie beschäftigt. Das beantwortet aber die Frage nicht, denn so einiges, womit sich die Biologie beschäftigt, ist nicht lebendig (zum Beispiel Vogelkot, Termitenhügel oder die Liebespfeile der Weinbergschnecken). Und abgesehen davon, dass wir Menschen nun einmal ein Streben danach an den Tag legen, auch allgemeine Fragen zu beantworten, ist es methodisch bestimmt sinnvoll, von einer Wissenschaft sagen zu können, was ihr genauer Gegenstand ist. Dem deutschen Physiker und Philosophen Carl Friedrich von Weizsäcker (1912–2007) wird der Ausspruch zugeschrieben: »Jeder Physiker hat eine Philosophie, und wer behauptet, keine zu haben, hat in der Regel eine besonders schlechte.« Dies gilt sicher auch für die Biologie.
Definition mit Grenzen
Ein Definitionsversuch, der auf den philosophischen Anthropologen Helmuth Plessner (1892–1985) zurückgeht, besteht darin, als Lebewesen »grenzrealisierende Dinge« zu betrachten, also solche, die ihre Grenze nach außen hin aus sich selbst heraus aufrechterhalten. Diese Definition hat den Vorteil, dass sie auf verschiedenen Ebenen funktioniert und die Abgrenzung zum Unbelebten einleuchtend gestaltet: Hautwunden schließen sich ebenso wie kleine Löcher in Schneckenhäusern oder beschädigte Gefäßwände. Leider entwickelte Plessner seine Überlegungen 1928, noch vor dem Elektronenmikroskop, weswegen er über die Struktur von Viren nichts wissen konnte. Wie genau mit Viren im Rahmen der eigenen Theorie umzugehen ist, scheint ihm später selbst nicht immer ganz klar gewesen zu sein.
Ein weiter entwickelter Ansatz findet sich in der philosophischen Schule um Peter Janich (1942–2016), wo Biologie als die Wissenschaft betrachtet wird, die sich aus bestimmten vorwissenschaftlichen Praktiken wie dem Züchten von Tieren und Pflanzen entwickelt hat. Ihre Eigenart ist es, ihre Gegenstände als Organismen zu betrachten, also als Funktionseinheiten mit Bauplänen, die nicht aus Komponenten zusammengesetzt sind wie Maschinen, sondern als Ganzes in einer evolutionär begründeten Entwicklung entstanden sein können müssen. Der Begriff des Lebens wird dann interessanterweise gar nicht mehr gebraucht. Es wird auch nicht gesagt, dass es Organismen schlicht gibt, sondern dass etwas als Organismus betrachtet wird. Dies ermöglicht weiterhin einen flexiblen Umgang mit den Problemen der Unterscheidung biologischer Individuen: Ob etwa die Bakterienflora im Darm eines Menschen oder im Leuchtorgan eines Tintenfischs »zu ihm gehört« oder ob eine Staatsqualle ein einzelner Organismus ist oder viele, das entscheidet sich dann nach dem Erkenntnisinteresse.
Aufmerksamen Lesern dieser Kolumne wird es sicher aufgefallen sein, dass es in der Philosophie wie in Jura die Tendenz gibt, auf jede Frage mit »Das hängt davon ab« zu antworten. So ist es auch hier. Ob man davon sprechen kann, dass ein Virus getötet wurde, hängt davon ab, ob man überhaupt akzeptiert, dass es sinnvoll ist, danach zu fragen, ob es lebt.
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