Warkus' Welt: Können wir frei von Widersprüchen leben?
Wenn es eine Hitliste von Begriffen gäbe, mit denen in der Philosophie besonders gerne operiert wird, dann stünde das Wort »Begriff« selbst wahrscheinlich ganz oben. Darin schlägt sich nieder, dass die Philosophie als die Wissenschaft verstanden werden kann, die sich mit den Grundlagen aller Wissenschaften einschließlich ihrer eigenen und mit der Möglichkeit von Begriffsbildung überhaupt auseinandersetzt. Man muss also notwendigerweise eine Menge über Begriffe reden.
Ebenfalls weit vorne in den Charts dürfte aber etwas weniger Selbstverständliches stehen: nämlich der Widerspruch. Philosophie zu treiben bedeutet, dauernd darüber zu reden, ob sich etwas widerspricht und warum. Denn in der Regel wird davon ausgegangen, dass erstens Menschen vernünftig denken sollten und, vernünftiges Denken voraussetzt, dass man keine widersprüchlichen Überzeugungen hegt. So ist es etwa nicht vernünftig, gleichzeitig zu meinen, man sollte immer früh aufstehen, aber auch, man sollte immer lange schlafen. Zweitens wird häufig angenommen, dass unabhängig vom Menschen nichts Widersprüchliches zugleich wahr sein kann: Meine Katze kann nicht gleichzeitig weiß und schwarz sein, ganz egal, welche Überzeugungen ich von ihrer Farbe habe.
Geht man nun davon aus, dass es keine Widersprüche geben kann beziehungsweise sie alle nur scheinbar sind und in Wirklichkeit auf Missverständnisse, Irrtümer oder unsauberes Denken zurückzuführen sind, dann ist notwendigerweise alles falsch, was zu Widersprüchen führt. Ausgehend von der Annahme, dass alles entweder wahr oder falsch ist, kann man auf diese Weise indirekte Beweise führen: Wenn die Annahme des Gegenteils eines Satzes zwangsläufig zu einem Widerspruch führt, dann muss der Satz wahr sein. Man spricht hier vom so genannten Widerspruchsbeweis oder »Reductio ad absurdum«.
Dabei ist dies natürlich keine alleinige Domäne der Philosophie. In der mathematischen Logik etwa ist die Reductio ad absurdum ebenfalls ein gängiges Beweisverfahren. Das klassische Beispiel, nämlich der Beweis der Irrationalität der Quadratwurzel aus 2, hat mit Philosophie auf den ersten Blick nichts zu tun.
Widersprüche gibt es auch jenseits formalisierter Symbolsysteme, und da wird es dann offenkundiger philosophisch. So lassen sich nicht bloß Behauptungen, sondern genauso Maximen für menschliches Handeln als widersprüchlich ausweisen. Ein Beispiel des deutsch-amerikanischen Philosophen Nicholas Rescher ist die Anweisung: »Lasst die alte Lagerhalle stehen, bis die neue fertig ist. Und baut die neue Lagerhalle aus dem Abbruchmaterial von der alten.«
Wenn Reden und Handeln sich widersprechen
Jenseits der bloßen Inhalte von Sprache können zudem Widersprüche zwischen sprachlichen Äußerungen und nicht sprachlichem Handeln festgestellt werden (so genannte performative Widersprüche). Ein einfacher und bekannter performativer Widerspruch ist es, »ICH SCHREIE DOCH ÜBERHAUPT NICHT!« zu schreien. Auf einer etwas komplexeren Ebene ist der Vorwurf ähnlicher performativer Widersprüchlichkeit eine übliche Form von Kritik an politischen Akteuren (»Sie wollen den Autoverkehr reduzieren und bauen gleichzeitig eine neue Autobahn«).
Einflussreiche logische und philosophische Überlegungen haben sich jedoch auch aus Zweifel an der Widerspruchsfreiheit als Norm entwickelt. Dass das menschliche Denken und/oder die menschlichen Gesellschaftsformen gerade durch Widersprüche und in Widersprüchen Fortschritte machen, ist (vereinfacht gesagt) einer der Grundgedanken der enorm einflussreichen, auf Georg Wilhelm Friedrich Hegel zurückgehenden philosophischen Strömungen seit dem 19. Jahrhundert. Auch gibt es den Einwand, dass es eventuell grundsätzlich gar nicht möglich ist, eine vollständig widerspruchsfreie Weltsicht oder ein vollständig widerspruchsfreies System von Regeln für das eigene Handeln zu haben; dass vielleicht die menschliche Existenz notwendigerweise an irgendeinem Punkt absurd ist und man das akzeptieren muss.
In unserem Alltagsdenken und -handeln spielt der Anspruch auf Widerspruchsfreiheit, aber auch das Scheitern an diesem Anspruch jedenfalls oft eine große Rolle. Es handelt sich hier um ein Gebiet, auf dem die Philosophie uns möglicherweise tatsächlich dabei helfen kann, mit unserem Leben besser zurechtzukommen, und sei es nur dadurch, dass man sich einmal klarmacht, was sich überhaupt alles widersprechen kann.
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