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Storks Spezialfutter: Online, aber keine Verbindung

Dass Kinder immer mehr den Kontakt zur Natur verlieren, ist nicht einfach nur schade, findet unser Kolumnist Ralf Stork: Mit unserem Wissen schwindet auch die Natur selbst.
In der Stadt gewinnt man leicht ein falsches Bild von Natur

Ich arbeite meistens von zu Hause aus. Auch vor Corona schon. Wenn ich mit meiner Arbeit gerade mal nicht weiter komme oder ich keine Lust habe, schaue ich aus dem Fenster. Fliegt ein Vogel vorbei, will ich wissen, was das für einer ist. Für dieses Jahr – gewissermaßen als Naturerlebnisausgleich für die vielen Corona-Einschränkungen – habe ich mir vorgenommen, für jeden einzelnen Tag genau Buch zu führen. Daher weiß ich, dass fast immer die gleichen sieben Arten zu sehen sind: Blau- und Kohlmeisen, Amseln, Ringeltauben, Elstern, Nebelkrähen und Spatzen. Manchmal tauchen aber andere auf: Etwas unregelmäßiger zeigen sich Schwanzmeisen, Eichelhäher, Buntspechte und Kernbeißer. Auch Raben und eine Lachmöwe waren schon da. Für eine Stadtwohnung in Berlin ist das ziemlich gut. Zwei Grundstücke weiter liegt ein kleiner Friedhof. Und von dieser Grünfläche strahlt die Artenvielfalt bis in die offenen Hinterhöfe aus.

Als ich angefangen habe Vögel zu beobachten, gab es noch keine Smartphones, kein Internet für alle und keine Streamingdienste. Hätte es damals mehr Ablenkungen und digitale Verlockungen gegeben, wäre ich vielleicht nicht bei diesem Hobby gelandet, das mich jetzt den natürlichen Reichtum direkt vor der Haustür schätzen lässt. Die heutige Großelterngeneration weiß möglicherweise noch mehr über die verschiedenen Arten – wer in den 1950er Jahren aufgewachsen ist, war vielleicht doch häufiger draußen als die Kinder der 1970er und 1980er Jahre.

Na klar, früher war alles besser! Die alte Leier kennt man ja schon seit mehr als 2000 Jahren. In Sachen Natur ist aber wirklich etwas dran. Technik und Digitalisierung nehmen in unserem Leben mittlerweile so viel Raum ein, dass für Naturerfahrung kaum noch Platz bleibt.

Der Welt steht ein Umbruch bevor – ob die Menschheit will oder nicht: Landwirtschaft, Verkehr und Energiegewinnung müssen nachhaltig und fit für den Klimawandel werden, gleichzeitig gilt es, eine wachsende Weltbevölkerung mit wachsenden Ansprüchen zu versorgen. Was bedeutet das für uns und unsere Gesellschaft? Und was für die Umwelt und die Lebewesen darin?
In »Storks Spezialfutter« geht der Umweltjournalist Ralf Stork diesen Fragen einmal im Monat auf den Grund.

Der Natursoziologe Rainer Brämer ist einer der Ersten, der dieses Thema in Deutschland wissenschaftlich untersucht hat. Der erste »Jugendreport Natur« erschien 1997 und ging unter anderem noch der Frage nach, ob viele Kinder wirklich glauben, Kühe seien lila, weil das in einem bekannten Schokoladenwerbespot so zu sehen war. Die gute Nachricht: Nur ein Prozent der befragten Schüler gaben »lila« an. Die schlechte Nachricht: Schon damals trat die Entfremdung von der Natur deutlich zu Tage. 60 Prozent der Befragten fanden es unangenehm, wenn ihnen ein Käfer über die Hand krabbelt. Und 36 Prozent konnten sich an kein einziges schönes Naturerlebnis erinnern.

Mehr Medienkonsum, weniger Naturerlebnisse

Seither ist es nicht besser geworden. Im Report von 2016 gaben 39 Prozent der Befragten an, gerne allein in den Wald zu gehen. 2010 waren es noch 53 Prozent. Der Report stellt einen klaren Zusammenhang zwischen Medienkonsum und Naturerlebnissen her: Von den Jugendlichen, die selten im Wald waren, sitzen 62 Prozent täglich drei oder mehr Stunden vor dem Bildschirm. Bei den Jugendlichen, die fast täglich in den Wald gehen, sind es nur 45 Prozent.

Wer länger vor dem Bildschirm sitzt und darum seltener in freier Flur unterwegs ist, der wird vermutlich auch weniger Arten kennen. Das klingt plausibel, lässt sich aber derzeit noch nicht mit Daten untermauern.

Ein Rotkehlchen? Ein Gimpel? | Befragte Kinder erklärten jeden Vogel mit roter Brust zum Rotkehlchen. Einen Gimpel erkannten die wenigsten korrekt.

Doch dass es generell um die Artenkenntnis der Kinder und Jugendlichen nicht gut bestellt ist, das lässt sich anhand einiger Umfragen belegen. Nach einem Spaziergang zum Vögelbeobachten am Chiemsee fragte sich Biologielehrer Thomas Gerl im Jahr 2017, wie viele der heimischen Vogelarten seine Schüler und Schülerinnen wohl erkennen würden. Aus einer spontanen Befragung entwickelte sich eine wissenschaftliche Untersuchung mit knapp 2000 Teilnehmern und Teilnehmerinnen, die 2018 in der »Zeitschrift für Didaktik der Naturwissenschaften« veröffentlicht wurde.

Eine Fünf in Artenkenntnis

»Das Testdesign ist ganz einfach. Wir haben den Kindern und Jugendlichen Bilder von Vogelarten gezeigt, die sie benennen mussten«, sagt Gerl. (Hier gibt es einen ähnlichen Test.) Die Ergebnisse waren ernüchternd: Im Durchschnitt wurden fünf von zwölf Arten richtig erkannt. Am häufigsten Amsel, Rotkehlchen, Blaumeise, Elster und Buntspecht. Das Rotkehlchen hat es vor allem deshalb in die Top Five geschafft, weil jeder Vogel mit einer irgendwie roten Vorderseite zum Rotkehlchen erkoren wurde. Unter das Bild vom Gimpel/Dompfaff zum Beispiel schrieben lediglich 44 die richtige Antwort, 415 aber Rotkehlchen. Das Bild oben zeigt übrigens weder den einen, noch den anderen Vogel, sondern den in Deutschland gefährdeten Bluthänfling (Linaria cannabina), auch er ein Vogel mit roter Brust. Kaum bekannt waren Buchfink (immerhin der häufigste Brutvogel in Deutschland), Grünfink, Gimpel und Kleiber. »Nur fünf von zwölf möglichen Punkten – in Schulnoten wäre das eine eher mangelhafte Leistung«, sagt Gerl. Bei einer vergleichbaren Untersuchung 2007 hatten die bayerischen Schüler und Schülerinnen noch sechs Arten richtig zuordnen können.

Wenn niemand mehr weiß, dass es auch Sperbergrasmücken gibt, schert sich auch niemand um ihr Wohlergehen

Gerl hat den Test mittlerweile mit einer größeren Auswahl heimischer Wirbeltiere wiederholt. Die Schüler und Schülerinnen mussten dabei 20 Arten richtig benennen, darunter auch Fische, Eidechsen und Kröten. Die meisten richtigen Antworten gab es beim Eichhörnchen (99 Prozent) und beim Maulwurf (97 Prozent). Am wenigsten bekannt waren Buchfink (9 Prozent) und Mäusebussard (14 Prozent). Die Ergebnisse werden demnächst im »International Journal of Science Education« veröffentlicht. Im Schnitt konnten die Kinder knapp elf Arten richtig benennen. In Schulnoten wäre das vielleicht gerade noch so eine Vier. Bei einer vergleichbaren Untersuchung 2006 waren es noch knapp 14 Arten.

Ist das jetzt schlimm? Ein bisschen Schulwissen geht schließlich ständig von Generation zu Generation verloren oder wird idealerweise durch anderes Wissen ersetzt. Das Problem bei der Natur ist, dass der Verlust von Naturkenntnissen leicht zu einer echten Verarmung der Natur führen kann: Wenn niemand mehr weiß, dass es außer Amseln, Spatzen und Meisen auch Gartenbaumläufer, Wiedehopfe und Sperbergrasmücken gibt, schert sich auch niemand mehr um ihr Wohlergehen.

Was ist »normal« in der europäischen Natur?

Das ist eine Variante des so genannten Shifting-Baseline-Syndroms: Jede Generation hält die Umweltausstattung und Artenvielfalt für normal, mit der sie aufwächst. Wenn die sich verschlechtert, wird es als Verlust wahrgenommen. Die Erfahrung einer ursprünglicheren Artenvielfalt, die es vielleicht eine Generation vorher noch gegeben hat, ist jedoch von Anfang an für sie verloren. Wenn den kommenden Generationen »Natur« immer gleichgültiger – weil fremder – ist, wird es den Arten zwangsläufig schlechter gehen, weil sie in der ganz und gar von Menschen durchdrungenen Welt auf unser Wohlwollen angewiesen sind.

Kann man das ändern? Vielleicht. »In Bayern gibt es seit 2017 einen neuen Lehrplan, in dem jedes Schuljahr ein heimisches Ökosystem drankommt«, sagt Gerl. Der Clou dabei: Es ist für die Lehrer und Lehrerinnen verpflichtend, mit ihren Schützlingen dafür nach draußen zu gehen. »Nur echte Naturerlebnisse führen auch zu echtem Interesse. Bloßes Auswendiglernen von Arten reicht dafür nicht aus«, sagt Gerl. Er selbst hat für seine Schüler und Schülerinnen Beobachterpässe entwickelt, auf denen man ankreuzen kann, welche Frühblüher man draußen gefunden hat oder welche Wasservögel und Gartenvögel. Für die Verbesserung der Artenkenntnis nutzt Gerl auch die technischen Möglichkeiten des Internets. Auf einer Website, die er mit Unterstützung der Ludwig-Maximilian-Universität München betreibt, finden sich viele Lernspiele und auch Unterrichtsmaterialien für Lehrer. Nach seiner ersten Schülerbefragung hat Gerl eine Viertelstelle am Fachbereich Didaktik der Biologie bekommen, um weiter zum Thema Artenkenntnis forschen zu können.

Das ist ein guter Anfang, aber ein oder zwei Initiativen allein werden natürlich wenig bewegen können. Auch Rainer Brämer bringt seinen »Jugendreport Natur« weitgehend in Eigeninitiative heraus. Um die Artenkenntnis der Kinder und Jugendlichen nachhaltig zu verbessern, braucht es deutlich mehr Engagement mit deutlich mehr Manpower. Bis es so weit ist, bleibt uns allen nur, selbst aktiv zu werden: einfach immer wieder rausgehen und hingucken. Der Rest kommt dann vielleicht schon von ganz allein.

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