Freistetters Formelwelt: Komplizierte Monddynamik
Wenn man über "schöne" Formeln spricht, dann sind diese meistens kurz (wie die berühmte eulersche Identität). Und das ist auch eine der großen Leistungen der Mathematik. Mit ihr lassen sich komplexe Sachverhalte sehr kompakt darstellen. Aber es kommt eben auch hier nicht nur auf die äußere Form an, sondern immer auf den Inhalt.
Meine Liebe zu langen und "hässlichen" Formeln habe ich während der Himmelsmechanik-Vorlesungen meines Studiums entdeckt. Der Professor erklärte die Berechnung der Bewegung des Mondes und verteilte eine Kopie einer Seite aus einem Buch, die nur von einer einzigen Formel gefüllt wurde. Ich war fasziniert von dem auf den ersten Blick völlig chaotisch aussehenden Durcheinander von Zahlen, Zeichen und griechischen Buchstaben. Und, so erklärte der Professor, diese Formel wäre nur eine Näherungsgleichung: All dieser mathematische Aufwand und dann handelt es sich noch nicht einmal um eine exakte Lösung des Problems.
Dabei ist die Gleichung nur die Spitze eines dramatischen Eisbergs. Später habe ich in der Bibliothek die Originalquelle nachgeschlagen: Band zwei der "Théorie du mouvement de la lune" des französischen Astronomen Charles Eugène Delaunay. Dieses 1867 erschienene Werk ist beeindruckend. Auf drei Seiten Vorwort folgen dort 931 Seiten die ausschließlich aus Formeln bestehen. Und was für Formeln! Die erste beginnt ganz harmlos mit einem "R = " und endet erst nach 42 dicht mit mathematischen Symbolen beschriebenen Seiten.
Es scheint absurd, dass so ein mathematisches Monstrum nötig ist, um die Bewegung des Mondes zu beschreiben. Immerhin wird die Bewegung doch nur durch die Gravitationskraft von Erde und Sonne (und den restlichen Planeten) bestimmt und Newtons berühmte Gleichung, mit der sich diese Kraft berechnen lässt, ist kurz und elegant. Ja, das ist sie zwar – aber sie lässt sich auch nicht direkt lösen! Sobald mehr als zwei Himmelskörper an einer Wechselwirkung beteiligt sind, kann man die aus Newtons Theorie folgenden Bewegungsgleichungen nicht mehr exakt lösen.
Das bewies Henri Poincaré Ende des 19. Jahrhunderts und begründete damit die moderne Chaostheorie. Wer die Bewegung von Himmelskörpern mathematisch untersuchen will, kann das nur näherungsweise tun. Dazu gibt es verschiedenste Methoden, die alle darauf hinauslaufen, dass man eigentlich simple mathematische Funktionen in unendlich lange Summen komplexer Ausdrücke umwandelt. Da man in der Praxis nur endlich viele Parameter verwenden kann, ist die Lösung bei diesen Methoden niemals exakt.
Je mehr Ausdrücke man aber benutzt, desto besser werden die Ergebnisse. Und Delaunay wollte so exakt sein, wie niemand vor ihm. Das Resultat sind seitenlange Formeln, die abschreckend wirken, aber höchst beeindruckend sind. Denn sie demonstrieren, wie kompliziert die Realität tatsächlich ist. Sie zeigen die unzähligen Einflüsse, die die Bewegung des Mondes bestimmen; jedes kleine Schwanken und Wackeln, die durch die Gravitationskraft der anderen Himmelskörper ausgelöst wird. Wir können in solchen Formeln direkt das komplexe, chaotische Netzwerk der Wechselwirkungen beobachten, das hinter der scheinbar regelmäßigen Bewegung der Himmelskörper lauert.
Heute verstecken wir diese Komplexität meistens im Computer. Wir müssen uns nicht mehr anstrengen wie Delaunay und seine Kollegen; kommen ohne seitenlange Formeln aus. Wir stecken die kurzen, aber unlösbaren Gleichungen einfach in ein Programm für numerische Näherungsverfahren und erhalten als Ergebnis direkt die simulierte Bewegung der Himmelskörper. Das ist praktisch und hat uns viele neue Erkenntnisse gebracht. Wir verlieren so aber auch den direkten Blick auf die Physik, die in den Gleichungen steckt. So abschreckend sie wirken mögen: Die Monstergleichungen von Delaunay und seinen Kollegen können uns immer noch einiges beibringen!
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