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Freistetters Formelwelt: Die Geschichte des Universums Revue passieren lassen

Wenn sich das Jahr seinem Ende nähert, ist es Zeit für einen neuen Kalender. Das ist eine gute Gelegenheit, auch einmal einen »kosmischen Kalender« auszuprobieren.
Der Kugelsternhaufen Messier 30 im Sternbild Steinbock
Angesichts des hohen Alters unseres Universums erscheinen die letzten 500 Jahre seit der Renaissance wie ein Wimpernschlag.
Die legendärsten mathematischen Kniffe, die übelsten Stolpersteine der Physikgeschichte und allerhand Formeln, denen kaum einer ansieht, welche Bedeutung in ihnen schlummert: Das sind die Bewohner von Freistetters Formelwelt.
Alle Folgen seiner wöchentlichen Kolumne, die immer sonntags erscheint, finden Sie hier.

Als Astronom, der sich viel mit der Wissenschaftsvermittlung beschäftigt, stellen mich vor allem die großen Distanzen und Zeiträume vor Probleme. Mit ein bisschen Mühe und Zeit kann man auch sehr komplexe astrophysikalische Zusammenhänge und Phänomene einigermaßen verständlich machen. Wenn es aber um die Frage geht, wie groß oder wie alt das Universum ist, scheitert unser Verstand zwangsläufig. Wir sind für solch enormen Zahlen nicht gemacht – probieren aber trotzdem immer wieder, sie irgendwie gedanklich zu fassen. Einer der besten Ansätze dazu stammt von einem der besten Wissenschaftsvermittler aller Zeiten und kann durch diese Formel ausgedrückt werden:

\[ T = 365 \cdot \left( 1- \frac{T_{Gy}}{13{,}797}\right) \]

Man kann damit einen »kosmischen Kalender« erstellen. Genau das hat der US-amerikanische Astronom Carl Sagan in seinen Büchern und Fernsehsendungen in den 1970er und 1980er Jahren gemacht. Die Idee funktioniert so: Stellen wir uns vor, die gesamte bisherige Geschichte des Universums würde in einem einzigen Jahr ablaufen. Der Urknall vor 13,8 Milliarden Jahren fand also genau um Mitternacht am 1. Januar statt. Die restlichen Ereignisse der Kosmologie können dann mit obiger Formel entsprechend umgerechnet werden (sie ignoriert zwar Schalttage und andere Feinheiten, aber darauf kommt es bei diesen Maßstäben nicht an). Wir können jetzt zum Beispiel in unserem kosmischen Kalender nachsehen, wann die Erde entstanden ist. Das war vor zirka 4,5 Milliarden Jahren, also setzen wir TGy = 4,5 in die Formel ein. Das Ergebnis T lautet dann rund 246: Die Erde entstand also am 246. Tag des Jahres; das ist in unserem Kalender der 3. September.

Es war also schon etwas herbstlich; der kalte Winter des kosmischen Jahres, der gesamte Frühling und fast der ganze Sommer waren schon vorbei, bevor die Erde im Universum aufgetaucht ist. Und dann hat es noch weitere 13 kosmische Tage gedauert, bis das erste Leben am 16. September auf der Erde erschien. Die Dinosaurier haben Weihnachten leider verpasst und sind erst um den 25. Dezember herum aufgetaucht. Das kosmische Silvester haben sie leider auch nicht mehr erlebt, denn der Asteroid, der die meisten von ihnen ausgelöscht hat, schlug am Morgen des 30. Dezember auf der Erde ein.

Der kosmische Countdown

Wir modernen Menschen sind erst am 31. Dezember des kosmischen Kalenders aufgetaucht, ein paar Minuten vor Mitternacht. Und wenn wir die aufgezeichnete Geschichte der Menschheit in den Kalender eintragen wollen, müssen wir uns an den letzten Sekunden der letzten Minute der letzten Stunde des kosmischen Jahres orientieren. Wenn wir bei einer normalen Silvesterparty den Countdown der letzten zehn Sekunden anstimmen, wurde im kosmischen Kalender gerade das Alphabet erfunden. Die klassische Periode der Antike beginnt, wenn wir von sieben zu sechs zählen und die Renaissance findet zwei Sekunden vor Mitternacht statt. Die komplette moderne Geschichte der letzten gut 400 Jahre muss in die allerletzte Sekunde gequetscht werden.

Wer sich mit der populären Darstellung der Kosmologie beschäftigt, wird vermutlich schon auf den kosmischen Kalender gestoßen sein. Die Idee ist nicht neu und sie ist nicht schwer zu verstehen. Aber es ist immer wieder extrem faszinierend zu sehen, wie sehr sich unser menschliches Zeitverständnis von den astronomischen Skalen unterscheidet. Ich bin mir nicht sicher, ob das Konzept des kosmischen Kalenders in der Lage ist, uns die gigantischen Zeiträume des Universums verständlich zu machen. Aber auf jeden Fall zeigt es uns sehr deutlich, warum wir nicht in der Lage sind, sie zu verstehen. Und vielleicht ist das das einzige Verständnis, auf das wir angesichts des gewaltigen Kosmos hoffen dürfen.

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