Freistetters Formelwelt: Das versteckte vierte newtonsche Gesetz
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Alle, die sich noch an den Physikunterricht in der Schule erinnern können, kennen die drei newtonschen Gesetze. In der vereinfachten Kurzform lauten sie:
- Ein Körper, auf den keine Kraft wirkt, bleibt in Ruhe oder bewegt sich gleichförmig und geradlinig weiter.
- Kraft ist Masse mal Beschleunigung.
- Zu jeder Kraft gibt es eine gleich große, aber entgegengerichtete Kraft.
Wie gesagt, das ist eine verkürzte Darstellung – aber sie ist insofern noch viel mehr verkürzt, als bei der Aufzählung von Isaac Newtons Gesetzen die Zusätze meist komplett ausgelassen werden. Vor allem der Zusatz, der sich mit der Überlagerung von Kräften beschäftigt, hätte die Bezeichnung »viertes newtonsches Gesetz« durchaus verdient. Dabei geht es um eine Formel, die wir heute so schreiben würden:
Zwei Kräfte \(\vec{F_1}\) und \(\vec{F_2}\), die auf einen Körper wirken, addieren sich zu einer resultierenden Kraft \(\vec{F_g}\). Newton hat auch erklärt, wie man diese Kräfte addiert. Er hat das geometrisch in Form eines »Kräfteparallelogramms« getan. In moderner Sprache würden wir sagen, dass wir zwei Kräfte, die am selben Punkt angreifen, durch zwei Vektoren darstellen können, die ein Parallelogramm aufspannen. Die Diagonale des Parallelogramms entspricht dann dem Vektor der resultierenden Kraft.
Diese geometrische Konstruktion ist identisch mit dem mathematischen Verfahren der Vektoraddition. All das ist für uns heute keine große Kunst. Für Newton und seine Zeitgenossen war dieser Weg, Kräfte zu addieren, allerdings alles andere als selbstverständlich. Das fängt schon damit an, dass das Konzept eines Vektors damals höchstens in den Kinderschuhen gesteckt hat, wenn überhaupt. Es war ja Newton selbst, der als Erster klar definiert hat, was man mit dem Begriff Kraft in der Physik meint und wie so eine Kraft funktioniert. Und er hat erstmals erklärt, wie sich Kräfte aufsummieren beziehungsweise wie man eine Kraft in unterschiedliche Teilkräfte aufspalten kann.
Eine plötzlich einsetzende Gravitation
Als sich zum Beispiel der italienische Mathematiker Niccolò Tartaglia in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts Gedanken darüber machte, wie man die Flugbahn von Kanonenkugeln beschreiben kann, nutzte er nicht die Addition von Kräften. Es erschien ihm nicht plausibel, dass mehrere Kräfte gleichzeitig und unabhängig voneinander auf denselben Körper wirken können. Natürlich war ihm klar, dass eine abgeschossene Kanonenkugel zuerst durch die Luft fliegt, weil von der Kanone eine entsprechende Kraft auf sie eingewirkt hat. Und dass die Kugel dann später zu Boden fällt, weil die Schwerkraft sie nach unten zieht. Doch wie man diese Kräfte kombinieren muss, beziehungsweise dass man das tun muss, wenn man die Bahn korrekt beschreiben will, war Tartaglia nicht bewusst. Seiner Beschreibung nach fliegt eine Kugel zuerst unbeeinflusst von der Gravitation, bis diese dann quasi »plötzlich« zu wirken beginnt und die Kugel zu Boden fällt.
Die Grundidee des Kräfteparallelogramms war zwar schon seit der Antike bekannt, aber seine Bedeutung wurde immer wieder unterschätzt. Der englische Mathematiker Thomas Harriot hat es im frühen 17. Jahrhundert verwendet, um Kollisionen von Billardbällen zu beschreiben. John Wallis, ein Zeitgenosse von Isaac Newton, hat das Kräfteparallelogramm 1671 in einer Arbeit explizit dargestellt, und ein paar Jahre später hat Newton es dann zu seinen Gesetzen der Bewegung hinzugefügt. Bis sich daraus jedoch der moderne, vektorielle Begriff von Kräften entwickelt hat, hat es noch weit bis in das 19. Jahrhundert gedauert.
Heute sind Vektoren ein fundamentaler Bestandteil von Mathematik und Physik, und wir wüssten gar nicht, wie wir anders über Kräfte nachdenken sollten, als in diesem Kontext. Aber auch das Offensichtliche braucht manchmal Zeit, bis es sich durchsetzt.
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