Krebs verstehen: Ist Krebs eine Erscheinung der heutigen Zeit?
Kolumne: »Krebs verstehen«
Statistisch gesehen erkrankt fast jeder zweite Mensch im Lauf seines Lebens an irgendeiner Art von Krebs. Weil man selbst betroffen ist oder eine betroffene Person kennt, geht das Thema damit alle etwas an. Gleichzeitig wissen viele Patientinnen und Patienten sowie ihre Angehörigen sehr wenig über die Erkrankung.
Was passiert dabei im Körper? Warum bekommen nur manche Menschen Krebs? Und wie individuell läuft eine Krebstherapie eigentlich ab? Diese und weitere Fragen beantwortet die Ärztin Marisa Kurz in ihrer Kolumne »Krebs verstehen«. Denn wer informiert ist, kann selbstbestimmte Entscheidungen treffen.
Das Medieninteresse war riesig, als die Internationale Agentur für Krebsforschung IARC Anfang Februar 2024 die aktuellen Daten zu Krebs veröffentlichte: Demnach soll die Zahl der jährlichen Neuerkrankungen weltweit zwischen 2022 und 2050 um 77 Prozent steigen – nämlich von 20 auf mehr als 35 Millionen Fälle.
Wie lässt sich dieser starke Anstieg erklären? Führt etwa unser derzeitiger Lebensstil dazu, dass Menschen vermehrt an Krebs erkranken? Ist Krebs gar eine Erscheinung der heutigen Zeit?
Schon Dinosaurier erkrankten an Krebs
Krebs entsteht, wenn bestimmte Zellen außer Kontrolle geraten und an Stellen wachsen, an die sie nicht gehören. Eine der Ursachen ist, dass der Bauplan der Zellen ständig schädlichen Einflüssen ausgesetzt ist – und diese ihn irgendwann so weit verändern können, dass die Zellen unerwünschte Eigenschaften entwickeln.
Besteht ein Organismus also aus vielen Zellen, geht damit ein gewisses Krebsrisiko einher. So überrascht es nicht, dass Krebs bei den meisten vielzelligen Tieren, den so genannten Metazoen, beschrieben ist. Tatsächlich sind alle Metazoen anfällig für Krebs: Säugetiere, aber auch Fische, Vögel oder Amphibien. Forschende haben herausgefunden, dass sogar schon Dinosaurier an Krebs erkrankten. In einem Knochen des Pflanzenfressers Centrosaurus apertus, der vor rund 76 Millionen Jahren lebte, haben sie ein so genanntes Osteosarkom, einen bösartigen Knochentumor, entdeckt.
Alle möglichen Arten von Tieren erkranken demnach an Krebs. Wie häufig, unterscheidet sich jedoch. Während Belugas und Tasmanische Teufel häufiger Krebs bekommen, haben Nacktmulle und Wale sehr selten Tumoren. Manche Tiere haben in der Evolution folglich eine Art Schutzmechanismus gegen Krebs entwickelt. Der Vollständigkeit halber möchte ich noch kurz auf Pflanzen, die auch vielzellige Organismen sind, eingehen: Bei ihnen können ebenfalls tumoröse Wucherungen entstehen, allerdings sind diese nicht mit Krebs bei Tieren vergleichbar. Sie werden häufig von Krankheitserregern ausgelöst, und vor allem metastasieren sie nicht. Denn Pflanzenzellen haben eine Zellwand, die sie fest mit anderen Pflanzenzellen verbindet – eine unkontrollierte Zellvermehrung oder gar eine Metastasierung wird dadurch erheblich erschwert.
Die Menschheit kennt Krebs schon lange
Der älteste Nachweis von Krebs beim Menschen wurde in Südafrika gefunden: ein rund 1,7 Millionen Jahre altes menschliches Knochenstück mit einem Osteosarkom. Neben solchen archäologischen Funden sind auch in verschiedenen Schriften immer wieder Beschreibungen von Krankheiten entdeckt worden, bei denen es sich um Krebs gehandelt haben muss. Der Begriff »Krebs« wird häufig Hippokrates (460 bis 370 v. Chr.) zugeschrieben. Die Form von Geschwüren an weiblichen Brüsten, so wird es überliefert, soll ihn tatsächlich an einen Krebs erinnert haben. Die früheste Beschreibung von Krebs findet sich im »Edwin Smith Papyrus«, das auf etwa 1700 v. Chr. datiert wird. Darin sind 48 medizinische Fälle dargestellt, und bei einem davon handelt es sich vermutlich um Brustkrebs.
Fest steht also: Krebs ist keine Erscheinung unserer Zeit und begleitet den Menschen schon lange. Doch es gibt Hinweise darauf, dass Krebs heute häufiger ist. So haben etwa Wissenschaftler aus Großbritannien Skelette aus dem 7. bis 17. Jahrhundert auf Knochenmetastasen untersucht und schätzen, dass rund zehn Prozent der damaligen Bevölkerung im Lauf des Lebens Krebs entwickelt haben könnten. Aktuell sind es rund 40 Prozent. Der Unterschied zu heute, so argumentieren die Autoren, ist zum Teil durch die deutlich geringere Lebenserwartung damals erklärt – denn Krebs tritt am häufigsten im Alter auf. Im Gegensatz dazu steigt in einigen der bevölkerungsreichsten Länder der Welt das Durchschnittsalter der Menschen stetig. Da das Erkrankungsalter für Krebs im Schnitt bei rund 66 Jahren liegt, nehmen damit auch die Krebsfälle heutzutage zu.
Eine weitere Begründung für den Anstieg ist ebenfalls recht naheliegend: Die Zahl der Menschen auf der Welt wächst – und damit natürlich auch die Zahl der Erkrankten. Doch auch unser Lebensstil – und damit Rauchen, Übergewicht oder Alkoholkonsum – sowie Umwelteinflüsse, etwa vermehrte Schadstoffexpositionen oder die Verbreitung von Viren, die Krebs auslösen, sind Faktoren. Das alles beeinflusst, wie sich die Zahl der Krebsfälle entwickelt. So zeigen Forschende, dass in den vergangenen Jahren einzelne Krebserkrankungen wie beispielsweise Darmkrebs in bestimmten Altersgruppen zugenommen haben.
Jedes der oben genannten Beispiele zeigt, dass Krebs den Menschen schon lange begleitet und eine Erkrankung ist, die vielzellige Organismen aus biologischen Gründen unweigerlich betrifft. Doch gleichzeitig sind wir der Biologie nicht vollständig ausgeliefert und können unser Krebsrisiko zumindest beeinflussen. Das empfinde ich als große Chance, die hoffentlich immer mehr Menschen nutzen. Denn ich freue mich über jeden, der nicht mein Patient wird.
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