Krebs verstehen: Warum klinische Studien bei Krebs anders ablaufen
Statistisch gesehen erkrankt fast jeder zweite Mensch im Lauf seines Lebens an irgendeiner Art von Krebs. Weil man selbst betroffen ist oder eine betroffene Person kennt, geht das Thema damit alle etwas an. Gleichzeitig wissen viele Patientinnen und Patienten sowie ihre Angehörigen sehr wenig über die Erkrankung. Was passiert dabei im Körper? Warum bekommt nicht jeder Krebs? Und wie individuell läuft eine Krebstherapie eigentlich ab? Diese und weitere Fragen beantwortet die Ärztin Marisa Kurz in ihrer Kolumne »Krebs verstehen«.
Leider sind viele Krebserkrankungen nicht heilbar. Forschende auf der ganzen Welt arbeiten deshalb daran, neue Medikamente im Kampf gegen Krebs zu entwickeln. Diese potenziell wirksamen Medikamente werden in so genannten klinischen Studien untersucht. Auch manche meiner Patientinnen und Patienten nehmen an solchen Studien teil.
Vom Laborexperiment bis zur klinischen Prüfung
Ein neues Krebsmedikament zu entwickeln, dauert viele Jahre, manchmal sogar Jahrzehnte. Der Startpunkt ist in der Regel im Labor. Dort beobachten Forscherinnen und Forscher zum Beispiel einen bestimmten Prozess in Krebszellen, mit dessen Hilfe sie sich vermehren. Dann suchen sie nach Substanzen, die genau diesen Prozess blockieren können und so das Krebswachstum verlangsamen oder stoppen.
Diese potenziellen Wirkstoffe testen sie zunächst an Krebszellen im Labor. Zeigen die Medikamente hier die gewünschte Wirkung, werden die Substanzen im nächsten Schritt an Tieren getestet. Auch wenn intensiv daran geforscht wird, Tierversuche zu ersetzen, sind sie aktuell noch notwendig, um zu prüfen, ob neue Medikamente wirksam und sicher sind. Denn leider gelingt es heute noch nicht, einen ganzen Organismus mit seinen unterschiedlichen Geweben und deren Wechselwirkungen vollständig nachzuahmen.
Klinische Studien laufen in unterschiedlichen Phasen ab
Wirken die Medikamente dann im Tierversuch und sind gut verträglich, können sie im Rahmen von klinischen Studien Menschen verabreicht werden. Die Sicherheit der Probanden steht dabei im Vordergrund, weshalb diese vor Beginn von verschiedenen Institutionen genehmigt werden müssen und international strenge Vorgaben gelten, die regeln, wie solche Studien durchgeführt werden sollen. In so genannten Phase-I-Studien werden die neuen Medikamente erstmals einer kleinen Gruppe von Menschen gegeben. Hier wird zunächst untersucht, ob die Medikamente verträglich sind und wie sie im menschlichen Körper verstoffwechselt werden. Eine Phase-II-Studie ist größer angelegt, an ihr nehmen etwa 100 bis 300 Personen teil. Es werden unter anderem unterschiedliche Dosierungen getestet und erste Daten erhoben, wie wirksam die Substanz ist. Phase-III-Studien sind noch größer angelegt, an ihnen nehmen hunderte oder tausende Erkrankte teil. Hier wird hauptsächlich die Wirksamkeit untersucht und natürlich die Verträglichkeit. Denn auch in Phase-III-Studien können noch unerwartete Nebenwirkungen auftreten, da sich seltene Nebenwirkungen statistisch erst dann zeigen, wenn viele Patientinnen und Patienten ein Medikament erhalten.
Die Besonderheit von klinischen Studien bei Krebs
Wenn neue Wirkstoffe bei Krebs untersucht werden, werden in den ersten Testungen oftmals nur Patienten eingeschlossen, bei der bekannte Therapien ihren Gesundheitszustand kaum oder nur in geringem Maß verbessern könnten. Schließlich wäre es nicht vertretbar, Krebserkrankten bekannte Therapien, die ihnen helfen könnten, vorzuenthalten und sie stattdessen mit neuen Medikamenten mit unklarer Wirkung zu behandeln. Erweisen sich Therapien in Studien als wirksam, können sie später zur Therapie auch in früheren Stadien der Erkrankung eingesetzt werden.
Am aussagekräftigsten sind Ergebnisse klinischer Studien, wenn Forscher die neuen Medikamente mit der Wirkung von Scheinmedikamenten, so genannten Placebos, vergleichen. Das bedeutet, dass ein Teil der Probanden das zu untersuchende Medikament erhält, der andere Teil nicht. Dabei weiß auch das betreuende Fachpersonal nicht, welche Personen in welcher Gruppe sind. So können Unterschiede im Krankheitsverlauf leichter auf das zu untersuchende Medikament zurückgeführt werden.
Allerdings wäre es im Fall von Krebspatienten unethisch, ihnen nur Scheinmedikamente zu verabreichen, da eine Krebserkrankung ohne Therapie immer weiter voranschreitet. In onkologischen Studien erhalten Erkrankte deshalb beispielsweise eine bereits etablierte Therapie plus ein neues Medikament oder ein Placebo. Wer das Medikament oder Scheinmedikament erhält, entscheidet ein Computersystem per Zufall. Dies wird als »Randomisierung« bezeichnet. Es gibt auch andere Studientypen, zum Beispiel solche, bei denen, erst nachdem die reguläre Therapie abgeschlossen ist, noch eine zusätzliche, experimentelle erfolgt.
Vor Studieneinschluss müssen viele Voraussetzungen erfüllt sein
Patientinnen und Patienten, die in klinische Studien aufgenommen werden, müssen strikt definierte Ein- und Ausschlusskriterien erfüllen. Diese sind in einem Studienprotokoll festgelegt. Zum Beispiel müssen sie an ganz bestimmten Krebserkrankungen leiden und dürfen nur bestimmte Vortherapien erhalten haben. Ebenso wenig sollten Hinweise darauf bestehen, dass die Betroffenen die Wirkstoffe schlecht vertragen könnten oder ihre Organfunktion erheblich eingeschränkt ist. Patientinnen und Patienten mit Hirnmetastasen sind in klinischen Studien ebenfalls häufig ausgeschlossen. Und potenzielle Probanden dürfen keine Medikamente einnehmen, die die Wirkung der Studienmedikation beeinflussen können. Erkrankte Frauen sowie die Partnerinnen von männlichen Studienteilnehmern, die sich im gebärfähigen Alter befinden, müssen sich verpflichten, während der Studie auf Geschlechtsverkehr zu verzichten oder besonders sicher zu verhüten – etwa durch eine Kombination von Pille und Kondom. Die strengen Ein- und Ausschlusskriterien sind dazu da, Probanden zu schützen und sollen außerdem ein Verfälschen der Ergebnisse verhindern. Sie führen in der Praxis aber natürlich auch dazu, dass manche Erkrankte nicht an Studien teilnehmen können.
Vor- und Nachteile von klinischen Studien
Die Teilnahme an einer klinischen Studie ermöglicht es Patienten, potenziell wirksame Medikamente zu erhalten, die sie sonst nicht bekommen könnten. Zudem ist medizinischer Fortschritt nur möglich, wenn neuartige Therapien entwickelt und getestet werden.
Meiner Meinung nach ist es allerdings sehr wichtig, sich auch mit den möglichen Nachteilen zu beschäftigen, wenn man an solchen Studien teilnimmt. Da sich die Probanden oftmals in einem fortgeschrittenen Krankheitsstadium befinden und bereits andere Therapien hinter sich haben, kläre ich Patienten intensiv darüber auf, dass sie im Rahmen einer Studie besonders engmaschig untersucht werden und längere und häufigere Aufenthalte am Behandlungszentrum notwendig sind als bei einer regulären Therapie. Das bedeutet zum Beispiel, dass häufiger Blut- oder Urinuntersuchungen oder EKGs durchgeführt werden. Manche Patienten empfinden das als Vorteil, anderen ist es wichtig, so wenig Zeit wie möglich im Krankenhaus zu verbringen. Solche Bedürfnisse lassen sich im Gespräch identifizieren. Ich zeige dann meinen Patientinnen und Patienten, wie ihr Terminkalender aussehen würde. Je nach Art der Therapie und der Phase der klinischen Prüfung werden die Behandlungen dann ambulant oder stationär durchgeführt.
Auch ist es mir wichtig, darüber zu sprechen, welche Erfahrungen es mit den untersuchten Medikamenten bereits gibt, welche Nebenwirkungen auftreten können und welche Verhaltensregeln während der Therapie zu beachten sind. Ich möchte ihnen klar machen, dass sie im besten Fall von einer klinischen Studie profitieren, der neue Wirkstoff die Krankheit im schlimmsten Fall aber nicht aufhalten kann und stattdessen Nebenwirkungen verursacht. Häufig antworten meine Patientinnen und Patienten, dass sie dankbar wären, daran teilzunehmen – denn auch wenn sie ihnen selbst nicht nützen sollte, wollen sie damit die Forschung unterstützen und vor allem anderen Erkrankten helfen.
Wer sich für eine Teilnahme an einer klinischen Studie interessiert, spricht am besten seine Behandler darauf an. In der Regel haben sie einen guten Überblick über Studien, die in der Region laufen. Alternativ kann man sich bei Universitätskliniken oder anderen Studienzentren über die Optionen informieren oder Studienregister durchsuchen.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.