Krebs verstehen: Warum nehmen Darmkrebserkrankungen bei Jüngeren zu?
Statistisch gesehen erkrankt fast jeder zweite Mensch im Lauf seines Lebens an irgendeiner Art von Krebs. Weil man selbst betroffen ist oder eine betroffene Person kennt, geht das Thema damit alle etwas an. Gleichzeitig wissen viele Patientinnen und Patienten sowie ihre Angehörigen sehr wenig über die Erkrankung. Was passiert dabei im Körper? Warum bekommt nicht jeder Krebs? Und wie individuell läuft eine Krebstherapie eigentlich ab? Diese und weitere Fragen beantwortet die Ärztin Marisa Kurz in ihrer Kolumne »Krebs verstehen«.
Vor ein paar Monaten hatte ich Nachtdienst. Meine Kollegen übergaben mir die Station, und auf der Liste der Patientinnen und Patienten stand ein Name, der mir sofort ins Auge fiel. Und tatsächlich: Es war jemand, den ich aus meiner Jugend kannte, aber seit mehr als zehn Jahren nicht gesehen hatte. Die Person war an ausgebreitetem Darmkrebs erkrankt. Wir sprachen in dieser Nacht nicht miteinander und dazu kam es auch nicht mehr. Nur wenige Wochen später erfuhr ich, dass sie verstorben ist. Dieser Fall hat mich sehr mitgenommen. Leider war es nicht der einzige Fall von Darmkrebs bei jungen Menschen, der mich in den letzten Monaten beschäftigt hat. Auch wenn Darmkrebs bei Jüngeren insgesamt selten ist, treten solche Fälle auf. Und Statistiken zeigen, dass sie zunehmen.
Darmkrebs ist derzeit die dritthäufigste Krebserkrankung weltweit. Nach Lungenkrebs fordern Darmkrebserkrankungen die meisten Krebstodesopfer. Seit einigen Jahren ist dabei eine besondere Entwicklung zu beobachten: In den letzten Jahrzehnten häufen sich die Darmkrebsfälle bei Personen unter 50 Jahren. So erkrankten in den USA beispielsweise im Jahr 1988 noch rund 8 von 100 000 Personen unter 50 Jahren an Darmkrebs, im Jahr 2015 waren es knapp 13. Deutlicher wird es, wenn man sich das mediane Erkrankungsalter anschaut: Im Jahr 2000 lag es bei 72 Jahren, heute bei 66 Jahren.
Die Darmkrebsfälle bei den unter 50-Jährigen steigen jedes Jahr um etwa ein Prozent, so dass Schätzungen zufolge 2030 22 Prozent der Enddarmkrebs- und 10 Prozent der Dickdarmkrebserkrankungen in den USA bei Personen in dieser Altersgruppe auftreten werden. Diese Entwicklung wird auch bei anderen Krebserkrankungen weltweit registriert. Zwischen 1990 und 2019 ist die Zahl der Krebsfälle bei Personen unter 50 Jahren um fast 80 Prozent gestiegen, die der Todesfälle um rund 28 Prozent. Wie lässt sich das erklären?
Steigende Häufigkeit von Darmkrebs hängt vermutlich mit Lebensstil zusammen
Viele äußere und innere Faktoren wirken zusammen, wenn Krebs entsteht. Einen einzelnen Grund dafür, dass die Darmkrebserkrankungen in jungem Alter zunehmen, gibt es nicht. Auch hier nehmen mehrere Faktoren Einfluss: Neben Rauchen und übermäßigem Alkoholkonsum gehört Übergewicht zu den wichtigsten vermeidbaren Risikofaktoren für Krebs, speziell auch für Darmkrebs. In den USA ist der Anteil Übergewichtiger von rund 30 Prozent im Jahr 1999 auf mehr als 40 Prozent im Jahr 2017 gestiegen. Die Fälle von schwerem Übergewicht haben sich in diesem Zeitraum fast verdoppelt. Zudem konnte dort in den letzten Jahrzehnten ein Anstieg des so genannten metabolischen Syndroms und von Typ-2-Diabetes bei jüngeren Erwachsenen beobachtet werden, der statistisch gesehen mit einem erhöhten Risiko für Darmkrebs einhergeht. Auch Bewegungsmangel und ein verändertes Ernährungsverhalten sind mögliche Faktoren. So hat in den letzten 50 Jahren der Konsum von rotem und verarbeitetem Fleisch sowie von prozessiertem Getreide und Zucker stark zugenommen. In einer großen Beobachtungsstudie in den USA waren eine westliche Ernährung sowie der tägliche Konsum zuckerhaltiger Getränke statistisch mit den gestiegenen Darmkrebsfällen bei Jüngeren assoziiert. Der Konsum von Ballaststoffen, besonders in Form von unprozessiertem Getreide, kann das Darmkrebsrisiko hingegen senken. Zudem beeinflusst unsere Ernährung die Bakterien, die in unserem Darm leben. Sie spielen bei der Entstehung von Darmkrebs ebenfalls eine Rolle.
Sollte das Darmkrebsscreening in Deutschland reformiert werden?
Das Fatale bei Krebserkrankungen von unter 50-Jährigen: Bei ihnen ist es sehr viel wahrscheinlicher, dass bei der Diagnose festgestellt wird, dass die Krankheit sich bereits auf das Lymphsystem oder andere Organe ausgebreitet hat, als bei Älteren. Unklar ist jedoch, ob die Erkrankungen bei Jüngeren aggressiver sind oder ob sie bei ihnen verspätet diagnostiziert werden. Je weiter sich der Krebs bereits ausgebreitet hat, desto schwerer ist es, ihn zu behandeln. Wichtig ist also, Krebs so früh wie möglich zu erkennen.
Aus diesem Grund wird diskutiert, ob man das Alter, ab dem man Anspruch auf beispielsweise ein Darmkrebsscreening hat, herabsetzen sollte. Aktuell können Menschen in Deutschland zwischen 50 und 54 Jahren einmal jährlich einen immunologischen Stuhltest durchführen lassen, der Blut im Stuhl nachweisen kann – ein Symptom von Darmkrebs. Ab 55 Jahren haben Frauen einen Anspruch auf zwei Darmspiegelungen zur Krebsfrüherkennung im Mindestabstand von zehn Jahren, Männer bereits ab 50 Jahren. Alternativ können sie ab 55 in zweijährigen Abständen Stuhltests durchführen lassen. Die in Deutschland angebotenen Untersuchungen zur Darmkrebsfrüherkennung haben nachweislich dazu geführt, dass die Darmkrebs- und Todesfälle zurückgegangen sind.
Im Jahr 2018 hat die Amerikanische Krebsgesellschaft empfohlen, die Früherkennungsuntersuchungen für Darmkrebs bereits mit 45 Jahren statt mit 50 Jahren zu beginnen. Sollte Deutschland also nachziehen?
Der Gemeinsame Bundesausschuss überprüft derzeit, ob das Darmkrebsscreening angepasst werden sollte. Hierbei gilt es, Nutzen und Risiken früherer Screeninguntersuchungen sorgfältig abzuwägen. Zu den Risiken gehört, dass es bei Darmspiegelungen zu Komplikationen, die jedoch selten schwer ausfallen, kommen kann. Außerdem werden mehr Kapazitäten benötigt, wenn mehr Menschen untersucht werden sollen, und das bei einem ohnehin schon stark belasteten Gesundheitssystem.
Den Nutzen von veränderten Darmkrebsscreening-Maßnahmen in Deutschland zu bewerten, ist komplex. Denn die Lage zeigt sich in Deutschland anders als in den USA. Hier zu Lande sind die Darmkrebsfälle bei Erwachsenen unter 50 Jahren zwischen 1999 und 2018 bei Männern von etwa sieben Fällen pro 100 000 auf neun pro 100 000 gestiegen, bei Frauen von sechs auf acht Fälle. Rund fünf bis sechs Prozent der Darmkrebsfälle in Deutschland werden bei Menschen unter 50 Jahren diagnostiziert. Die Zahl steigt also, so hoch wie in den USA ist sie allerdings nicht – jedenfalls noch nicht. Die Darmkrebstodesfälle in Deutschland sinken sogar insgesamt, auch wenn diese Tendenz bei Jüngeren deutlich geringer ist als bei Älteren.
Das mediane Erkrankungsalter der Darmkrebserkrankten unter 50 Jahren liegt in Deutschland bei rund 45 Jahren. Das bedeutet: Rund die Hälfte der jungen Darmkrebspatienten und -patientinnen würde von einem Screening ab 45 wie in den USA nicht profitieren. Denn der größte Anstieg der Darmkrebsfälle bei Jüngeren in Deutschland wird in der Altersgruppe 20 bis 29 verzeichnet. Insgesamt sind die Fälle aber in dieser Altersgruppe sehr selten.
Außer der Alterssenkung des Screeningbeginns werden von Experten noch andere Änderungsvorschläge für das Darmkrebsscreening in Deutschland diskutiert. Forscherinnen und Forscher schlagen eine dritte Darmspiegelung ab dem Alter von 70 Jahren bei Männern und Frauen vor und empfehlen, Darmspiegelungen auch bei Frauen ab 50 zu beginnen. Außerdem werfen sie die Frage auf, ob man die Abstände der fünf jährlich aufeinander folgenden Stuhluntersuchungen im Alter von 50 bis 54 nicht ausweiten könnte. Dabei merken sie auch an, dass die Stuhltests im Gegensatz zur Darmspiegelung keine Vorstufen von Krebs nachweisen und damit die Anzahl der Neuerkrankungen nicht senken können.
Viele empfehlen außerdem, den Zugang zum Screening zu erleichtern und die Aufklärungsmaterialien verständlicher zu gestalten. Denn viele Menschen, denen Früherkennungsuntersuchungen zustehen würden, nehmen diese nicht wahr. Die Inanspruchnahme unterscheidet sich unter anderem je nach Alter, Migrationshintergrund, Bildungsgrad und Erwerbstätigkeit.
Eine weitere Überlegung ist, Risikofaktoren für Darmkrebs bei der Auswahl der Früherkennungsuntersuchungen und des Untersuchungszeitpunkts stärker einzubeziehen. Schätzungen zufolge liegt bei bis zu 25 Prozent der jungen Krebspatienten eine erblich bedingte Veranlagung vor, die zu einem erhöhten Krebsrisiko führt. Aktuell wird empfohlen, die Früherkennungs-Darmspiegelung in einem Alter durchzuführen, das zehn Jahre unter dem Erkrankungsalter von nahen Angehörigen wie Eltern liegt – es sei denn, es liegt ein bekanntes Krebssyndrom vor, bei dem intensivierte Vorsorgemaßnahmen notwendig sind. Neben dem Alter und familiären Risikofaktoren könnten noch weitere Faktoren wie der Lebensstil (Bewegung, Ernährung, Übergewicht, Rauchen, Alkohol) oder die Ethnizität zur Risikoabschätzung herangezogen werden. Solche Modelle zu entwickeln, ist allerdings sehr komplex.
Insgesamt ist es also alles andere als einfach, die bestmögliche Strategie für ein verändertes Darmkrebsscreening in Deutschland festzulegen. Es bleibt abzuwarten, ob und wie das Screening hier zu Lande angepasst wird. Ich persönlich halte es für sehr wahrscheinlich, dass mittelfristig Änderungen kommen. Und bin gespannt, wie genau sie aussehen werden.
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