Krebs verstehen: Wenn Krebs in der Familie liegt
Statistisch gesehen erkrankt fast jeder zweite Mensch im Lauf seines Lebens an irgendeiner Art von Krebs. Weil man selbst betroffen ist oder eine betroffene Person kennt, geht das Thema damit alle etwas an. Gleichzeitig wissen viele Patientinnen und Patienten sowie ihre Angehörigen sehr wenig über die Erkrankung. Was passiert dabei im Körper? Warum bekommt nicht jeder Krebs? Und wie individuell läuft eine Krebstherapie eigentlich ab? Diese und weitere Fragen beantwortet die Ärztin Marisa Kurz in ihrer Kolumne »Krebs verstehen«.
Viele meiner Patientinnen und Patienten fragen mich: Ist mein Krebs vererbbar? Haben meine Kinder ein erhöhtes Krebsrisiko? In den allermeisten Fällen kann ich ihnen diese Sorge nehmen, denn die meisten Krebserkrankungen entstehen durch ein komplexes Zusammenspiel von inneren und äußeren Faktoren. Bei manchen Menschen haben allerdings die inneren, angeborenen Faktoren besonders großen Einfluss: Diese Personen haben von Geburt an ein deutlich erhöhtes Krebsrisiko.
Etwa fünf bis zehn Prozent aller Krebserkrankungen sind vorrangig auf bestimmte angeborene Erbgutveränderungen zurückzuführen. Wenn in einer Familie bei mehreren Personen und vor allem in jungem Alter Krebs auftritt, eine Person jung an Krebs erkrankt oder im Laufe ihres Lebens mehrere Krebsdiagnosen erhält, können das Hinweise auf ein erblich bedingtes erhöhtes Krebsrisiko sein.
Was sind erblich bedingte Krebserkrankungen?
Das wohl bekannteste Beispiel für erblich bedingten Krebs ist der familiäre Brust- und Eierstockkrebs, der durch Veränderungen in den Erbgutabschnitten BRCA1 und BRCA2 ausgelöst wird. Zellen mit diesen Veränderungen können Schäden in ihrem Erbgut nicht so gut reparieren. Die Folge: Diese Schäden sammeln sich an und führen zu veränderten Zelleigenschaften. Sie können dazu führen, dass sich die Zellen unkontrolliert vermehren, also bösartig werden. Menschen, die diese Veränderungen in sich tragen, haben ein hohes Risiko, an Brustkrebs, Eierstockkrebs, aber auch anderen Krebserkrankungen wie Bauchspeicheldrüsenkrebs zu erkranken.
Zur Veranschaulichung: Rund 70 Prozent der Frauen, die eine Veränderung im BRCA1- oder BRCA2-Erbgutabschnitt haben, erkranken im Laufe ihres Lebens an Brustkrebs. In der Allgemeinbevölkerung sind es hingegen nur 13 Prozent. Davon sind übrigens nicht nur Frauen betroffen, auch Männer können an Brustkrebs erkranken. An Eileiter- oder Eierstockkrebs erkranken etwa 44 von 100 Frauen mit BRCA1-Veränderung im Laufe ihres Lebens, bei BRCA2 sind es 17. Bei der Gruppe der Frauen ohne erbliche Veranlagung erkrankt etwa 1 von 100 Frauen an Eileiter- oder Eierstockkrebs.
Es sind einige erblich bedingte Syndrome bekannt, die das Risiko erhöhen, an Krebs zu erkranken. Dem so genannten Lynch-Syndrom liegen beispielsweise etwa drei Prozent der Darmkrebserkrankungen zu Grunde. Hier haben Zellen ebenfalls ein Problem mit der Reparatur des Erbguts, so dass sich Zellen leichter bösartig verändern können. Von 100 Menschen mit Lynch-Syndrom bekommen etwa 15 bis 50 Personen im Laufe ihres Lebens Darmkrebs. Besonders ist, dass Krebszellen mit diesen Veränderungen eine so genannte Mikrosatellitenstabilität aufweisen. Mikrosatelliten sind kurze Erbgutabschnitte, die hintereinanderliegen und sich bis zu hunderte Male wiederholen. Bei solchen repetitiven Sequenzen kann es bei der Zellteilung besonders leicht zu Fehlern kommen, wenn eine bestimmte Art der Erbgutreparatur nicht gut funktioniert – so wie beim Lynch-Syndrom.
Auf Grund dieser Eigenschaft sprechen die Krebszellen zum Teil sehr gut auf Immuntherapien an, so dass diese neben einer Chemotherapie, einer zielgerichteten Therapie und einer Operation noch eine zusätzliche Behandlungsoption sein können. Ein weiteres erblich bedingtes Darmkrebssyndrom ist die Familiäre Adenomatöse Polyposis (FAP). Betroffene entwickeln bereits in einem jungen Alter sehr viele Schleimhautwucherungen in der Dickdarmschleimhaut (Polypen), die sich in praktisch allen Fällen irgendwann bösartig verändern können.
Beim so genannten Li-Fraumeni-Syndrom ist das Protein p53 in Körperzellen verändert. Es wird auch als »Wächter« unseres Erbguts bezeichnet, da es dafür sorgt, Zellen mit großen Schäden im Erbgut zu erkennen und zu vernichten, so dass sie sich nicht mehr bösartig verändern können. Menschen mit Li-Fraumeni-Syndrom haben deshalb ein sehr hohes Krebsrisiko. Fast alle erhalten meist schon in einem sehr jungen Alter eine Krebsdiagnose, einige in ihrem Leben sogar mehrfach.
Wie die Diagnose erblich bedingter Krebs gestellt wird
In vielen Familien treten gehäuft Krebserkrankungen auf, ohne dass bei ihnen ein spezielles genetisches Risiko identifiziert werden kann. Nur in seltenen Fällen liegt tatsächlich eine erbliche Belastung vor, die das Krebsrisiko entscheidend erhöht. Auch gibt es Krebsarten, bei denen es ganz typisch ist, dass sie eher in jungem Alter auftreten.
Ob ein erblich bedingter Krebs vorliegt oder nicht, können Ärztinnen und Ärzte mit einer Aus- oder Zusatzweiterbildung in Humangenetik feststellen. Sie führen zunächst ein ausführliches Gespräch mit den Patientinnen und Patienten und erstellen einen Familienstammbaum, in dem sie alle bekannten Krebserkrankungen in der Familie und das Alter, in denen diese aufgetreten sind, erfassen. Wenn der Stammbaum auffällig ist, können sie den Verdacht eines angeborenen erhöhten Krebsrisikos mit Hilfe einer Blutuntersuchung bestätigen oder entkräften. Bevor solche Untersuchungen durchgeführt werden, ist zu bedenken, dass das Ergebnis nicht nur den Getesteten, sondern auch seine Familienangehörigen betrifft. Meiner Meinung nach ist es deshalb sinnvoll, einen solchen Test vorher mit ihnen zu besprechen.
Früherkennung und prophylaktische Maßnahmen bei erblicher Belastung
Für die Allgemeinbevölkerung werden bestimmte Untersuchungen zur Krebsfrüherkennung angeboten. Menschen mit erblich bedingtem hohem Risiko für Krebs werden dabei deutlich engmaschiger untersucht. Bei Menschen mit Lynch-Syndrom bedeutet das zum Beispiel, dass sich Betroffene jährlich unter anderem einer Darmspiegelung unterziehen.
In manchen Fällen ist das Risiko, Krebs zu entwickeln, so hoch, dass sogar die prophylaktische Entfernung von Organen sinnvoll sein kann. Die Schauspielerin Angelina Jolie ist Trägerin einer BRCA-Mutation und sprach öffentlich darüber, wie sie sich ihre Brüste, Eileiter und Eierstöcke entfernen ließ. Bei FAP kann es sinnvoll sein, den gesamten Dickdarm oder Teile davon zu entfernen. Bei so drastischen Eingriffen wird klar, dass die Diagnose sicher sein muss und Betroffene sich von Expertinnen und Experten beraten lassen sollten. Zu diesem Zweck gibt es überall in Deutschland Zentren, die auf die Diagnose und Beratung zu erblich bedingten Krebserkrankungen spezialisiert sind.
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