Krebs verstehen: Wie ist es, Ärztin von Krebskranken zu sein?
Ob mir die tägliche Arbeit mit Patientinnen und Patienten, die an Krebs erkrankt sind, nicht zu bedrückend sei, fragte mich einmal ein Rechtsmediziner im Ruhestand. Ich war verdutzt, schließlich hatte er in seinem Leben unzählige Tote untersucht. Einige davon waren sicherlich Opfer von Gewaltverbrechen. Auf meine zögerliche Reaktion sagte er: »Ich habe mit Toten zu tun, nicht mit Sterbenden. Das ist ein großer Unterschied.«
Tatsächlich finde ich mich oft in traurigen Situationen, denn viele meiner Patienten können nicht geheilt werden. Doch in der womöglich schwersten Zeit für Menschen da zu sein, das ist es, was es für mich ausmacht, Ärztin zu sein. Ich erinnere mich an einen Freitagnachmittag, den 23. Dezember 2022, einen Tag vor Weihnachten. Ich sitze an meinem Arbeitsplatz und halte einen Telefonhörer in der Hand. Über die Pforte des Klinikums lasse ich mich in ein Land am anderen Ende der Welt durchstellen. Eine Bandansage beginnt: »Sie haben die Notfall-Hotline der Deutschen Botschaft gewählt. Bleiben Sie nur in der Leitung, wenn Sie deutscher Staatsangehöriger sind und sich in einer Notlage befinden.«
Ich schaue aus dem Fenster. In der Ferne erkenne ich den Münchner Olympiaturm. Ich atme tief durch und bleibe am Hörer. Ein Mann nimmt ab. »Ich bin Ärztin an einem Klinikum in Deutschland. Ich habe hier eine junge Patientin. Sie ist Mitte 20. Sie wird wahrscheinlich in den nächsten Tagen sterben. Sie und ihre Mutter sind keine deutschen Staatsangehörigen. Die Mutter darf nicht nach Deutschland einreisen, weil ihr Visum erst für Ende Januar bewilligt ist. Ich will, dass sie jetzt bei ihrer Tochter sein kann«, sage ich. Ich halte kurz inne und ergänze: »Und Sie sind der einzige Mensch auf der Welt, der jetzt helfen kann.«
Statistisch gesehen erkrankt fast jeder zweite Mensch im Lauf seines Lebens an irgendeiner Art von Krebs. Weil man selbst betroffen ist oder eine betroffene Person kennt, geht das Thema damit alle etwas an. Gleichzeitig wissen viele Patientinnen und Patienten sowie ihre Angehörigen sehr wenig über die Erkrankung. Was passiert dabei im Körper? Warum bekommt nicht jeder Krebs? Und wie individuell läuft eine Krebstherapie eigentlich ab? Diese und weitere Fragen beantwortet die Ärztin Marisa Kurz in ihrer Kolumne »Krebs verstehen«.
Was Onkologie für mich bedeutet
Ich glaube, die meisten Ärzte und Ärztinnen habe ihre eigene Vorstellung davon, was für einen Stellenwert die Medizin für sie hat. Den einen erfüllt es, einen verletzten Körper chirurgisch zu »reparieren«. Der andere findet es Sinn stiftend, das psychische Wohlbefinden von Menschen wiederherzustellen.
Für mich bedeutet Medizin, Erkrankte in schwierigen Zeiten zu begleiten. Als meine Mutter vor knapp zehn Jahren Krebs hatte, habe ich erlebt, was für ein schwerer Schicksalsschlag die Diagnose ist. Die Angst, dass die Erkrankung zurückkommen könnte und man jederzeit wieder den Boden unter den Füßen weggerissen bekommt, sind uns geblieben, auch wenn sie heute gesund ist.
Diesen Kontrollverlust will ich bei meinen Patientinnen und Patienten abfedern. Indem ich die Erkrankung und Behandlung ausführlich erkläre, einen Fahrplan aufzeige, mir Zeit für Gespräche nehme und auf Sorgen eingehe. Manche Erkrankte werden im Rahmen der Therapie und Nachsorge über Monate oder Jahre engmaschig von ihren Onkologen behandelt. Das schafft ein enges Verhältnis zwischen Arzt und Patient.
Eine Begegnung mit den eigenen Grenzen
Es gibt kaum ein Fach in der Medizin, das sich so schnell weiterentwickelt wie die Onkologie. Jeden Tag veröffentlichen Forscherinnen und Forscher neue wissenschaftliche Erkenntnisse über Krebs. Ständig setze ich neueste Therapien ein. Neue technologische Durchbrüche zu erleben und gleichzeitig ihre Grenzen zu sehen und damit umzugehen, das empfinde ich als besonders herausfordernd – aber auch als bereichernd.
Gleichzeitig stehe ich immer wieder vor ethischen Fragen, die so alt wie die Menschheit sind: Fragen zum Leben, zum Sterben und zum Tod. Wie auch vor Fragen von richtig und falsch, etwa wenn es etwa darum geht abzuwägen, ob ein Lebenszeitgewinn von wenigen Monaten eine Therapie mit Nebenwirkungen und Krankenhausaufenthalten rechtfertigt. So zum Beispiel, wenn ich Patienten behandle, die nicht mehr geheilt werden können. Eine unserer wichtigsten Aufgaben besteht meiner Meinung nach darin, die verbleibende Zeit wertvoll zu machen: nämlich Lebensqualität zu erhalten und Beschwerden zu lindern. Hier ist auch eine kritische Betrachtung der eigenen Tätigkeit wichtig. Wenn Nutzen und Nebenwirkungen der Therapien in keinem angemessenen Verhältnis mehr stehen, liegt es an uns, die Behandlung an Palliativmediziner abzugeben. Und auch hier bin ich mit einer Grenze konfrontiert – meiner eigenen.
Traurig zu sein, bedeutet nicht, nichts Gutes tun zu können
Es gibt Fälle, die gehen so unter die Haut – wie der der zu Anfang genannten Patientin –, dass man sich immer wieder daran erinnert. Am Dienstag nach Weihnachten war ich wieder bei der Arbeit. Gegen Mittag kommt eine Kollegin zu mir. »Da ist jemand für dich«, sagt sie. Auf dem Gang steht eine Frau. Auch wenn ich sie noch nie gesehen habe, weiß ich sofort, wer sie ist: die Mutter meiner Patientin.
Die Tochter hat viel länger überlebt, als wir angenommen hatten. Mutter und Tochter konnten sogar noch gemeinsam in ihr Heimatland fliegen, denn der Wunsch der Patientin war, in ihrer Heimat zu sterben.
Macht mich diese Geschichte traurig? Selbstverständlich. Doch an jenem Dienstag hatte ich Freudentränen in den Augen und das Gefühl, etwas Sinnvolles getan zu haben. Aus medizinischer Sicht haben die Therapien in diesem Fall leider versagt. Welche Medikamente auch immer wir ihr gegeben haben, ihr Krebs wuchs weiter. Doch Medizin zu praktizieren, bedeutet für mich viel mehr, als nur zu heilen. Auch wenn der Tod manchmal nicht mehr abzuwenden ist, kann ich das Leben der Patienten positiv beeinflussen.
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