Krebs verstehen: Wie gehen Angehörige mit einer Krebsdiagnose um?
Statistisch gesehen erkrankt fast jeder zweite Mensch im Lauf seines Lebens an irgendeiner Art von Krebs. Weil man selbst betroffen ist oder eine betroffene Person kennt, geht das Thema damit alle etwas an. Gleichzeitig wissen viele Patientinnen und Patienten sowie ihre Angehörigen sehr wenig über die Erkrankung. Was passiert dabei im Körper? Warum bekommt nicht jeder Krebs? Und wie individuell läuft eine Krebstherapie eigentlich ab? Diese und weitere Fragen beantwortet die Ärztin Marisa Kurz in ihrer Kolumne »Krebs verstehen«.
Vor einigen Jahren wurde bei meiner Mutter ein bösartiger Tumor am Eileiter entdeckt. Damals war ich noch keine Ärztin. Als ich von der Diagnose erfuhr, recherchierte ich sofort und erfuhr, dass die Erkrankung häufig erst spät entdeckt wird und dann nicht mehr heilbar ist. Heute begleite ich als Ärztin selbst Krebspatientinnen und -patienten. Auch auf Grund meiner eigenen Erfahrungen weiß ich, dass deren Angehörige mehr Aufmerksamkeit und Unterstützung bekommen sollten.
Ich weiß noch genau, wo ich an dem Tag war, an dem die Diagnose kam. Meine Mutter war wegen des Verdachts auf eine andere Erkrankung operiert worden. Nachträglich hatten Untersuchungen einen bösartigen Tumor angezeigt. Das Ergebnis wurde ihr telefonisch mitgeteilt. Meine Mutter rief mich an und erzählte mir von der Diagnose. Ich war damals wissenschaftliche Hilfskraft an einem Forschungsinstitut am Münchner Stadtrand und ging nach dem Telefonat zu meinen Kolleginnen. Ich wusste, dass die Mutter einer der beiden gerade mit Bauchspeicheldrüsenkrebs im Sterben lag. Ich fing an zu weinen und die beiden schickten mich nach Hause zu meiner Mutter. Auf dem langen Heimweg hatte ich Zeit, mich über die Diagnose zu informieren. Dazu nutzte ich wissenschaftliche Plattformen, die mir ungeschönte Antworten gaben: Die meisten Menschen, die den Befund meiner Mutter bekommen, überleben die Erkrankung mittelfristig nicht.
Mich überkam eine unfassbare Panik. Zu meinem Vater habe ich keinen Kontakt, zu anderen Familienmitgliedern auch nicht. Einen Partner hatte ich damals nicht. Ohne meine Mutter, dachte ich, bin ich völlig allein auf der Welt.
Ich ging in einen Modus über, bei dem ich einfach nur funktionierte. Als sie noch einmal operiert werden musste – es wurden Lymphknoten und andere Gewebe untersucht, um herauszufinden, ob der Krebs sich im Körper ausgebreitet hat –, ging ich mit ihr ins Krankenhaus. Zu dem Zeitpunkt wusste ich durch meine Recherchen, dass die nun kommenden Ergebnisse über ihr Leben oder ihren Tod entscheiden würden.
Das war in der ersten Jahreshälfte. Jeden Tag besuchte ich sie in der Klinik. Immer mit der Sorge, ob ich Weihnachten ohne Familie sein würde. Doch das Glück war auf unserer Seite, der Krebs hatte nicht gestreut. Nach der Operation begleitete ich sie zu den Chemotherapien, ging für sie einkaufen und war bei ihr, als ihr von der Therapie schlecht war. Über Monate und Jahre ging ich mit ihr zu den Nachsorgeuntersuchungen. Und habe jedes Mal mit ihr gefürchtet, dass die Erkrankung zurückkommt. Neun Jahre nach der Diagnose ist sie gesund, sie lebt. Doch ihr Leben war danach nicht mehr wie vorher, und meines auch nicht. Die Erinnerung daran, dass das Leben von einem Moment auf den anderen plötzlich an einem seidenen Faden hängen kann, ist uns geblieben. Meine Sicht auf das Leben hat sich dadurch verändert: Einerseits bin ich mir bewusster darüber, dass jederzeit etwas Schlimmes passieren kann, andererseits bin ich auch viel dankbarer, wenn es nicht so ist, und versuche mich weniger über Banalitäten zu ärgern.
Heute bin ich diejenige im weißen Kittel
Nun erlebe ich als Ärztin für Krebspatientinnen und -patienten solche Situationen von der anderen Seite. Ich habe Menschen kennen gelernt, die ihre Eltern auf dem letzten Weg begleitet haben, und Mütter und Väter, die mit ihren Kindern gebangt und sie dennoch an die Erkrankung verloren haben. In der Weihnachtszeit hatte ich beispielsweise ein Gespräch mit Vater und Sohn, in dem ich mit den beiden darüber gesprochen habe, dass es das letzte Weihnachten des Sohnes sein wird. Er war Mitte 20. Der junge Patient war gefasst, er hatte diese Nachricht bereits erwartet. Der Vater nicht. Ihn so weinen zu sehen, war für mich in dem Moment schwer auszuhalten. Er zeigte, was er im Innersten fühlte.
Immer wieder sehe ich jedoch auch Angehörige, die in solchen Gesprächen zwar glasige Augen bekommen, aber mit aller Kraft versuchen, dies nicht zu zeigen. Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie sehr Familienmitglieder und Freunde bei einer Erkrankung einer geliebten Person mitleiden. Doch sie wollen für die Betroffenen stark sein, sie nicht mit ihren eigenen Sorgen belasten. Manchmal fällt es ihnen deshalb schwer, selbst Hilfe einzufordern und anzunehmen. Denn sie sind ja nicht diejenigen, die krank sind.
Doch sie sind es, die den gemeinsamen Alltag am Laufen halten. Sie sind es, die die Erkrankung scheinbar machtlos mitansehen müssen und fürchten, allein zurückzubleiben. Wenig überraschend für mich zeigen Studien, dass Angehörige von Krebserkrankten ein erhöhtes Risiko haben, psychische Erkrankungen zu entwickeln. Immer wieder ziehen mich Patienten und Patientinnen oder ihre Angehörigen zur Seite mit den Worten »Bitte sagen sie ihr/ihm nicht, wie schlecht es steht«. Sie wollen den anderen schützen. Nicht selten kommt es vor, dass beide das tun, um sich gegenseitig zu schonen.
Ich habe kein Geheimrezept, wie Angehörige am besten mit der Situation umgehen. Das ist so individuell, dass ich hier nur aus meiner subjektiven Erfahrung sprechen kann. Ich finde es wichtig, dass sie sich selbst nicht vergessen, Hilfe von anderen auch ruhig einfordern und annehmen und Sorgen gegenüber den Erkrankten ansprechen. Zudem gibt es verschiedene Anlaufstellen, die speziell für die Familie oder Freunde von Krebspatientinnen oder -patienten Informationen und Hilfestellungen bieten: die Deutsche Krebshilfe, der Krebsinformationsdienst oder die Deutsche Krebsgesellschaft.
Auch Verwandte oder Freunde dieser Angehörigen können meiner Meinung nach etwas tun: Verständnis dafür haben, was sie durchmachen, sie zur Seite nehmen und fragen, ob sie reden wollen und Unterstützung brauchen. So können sie wieder Kraft schöpfen, um den Erkrankten in dieser schwierigen Zeit weiterhin zur Seite stehen zu können.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.