Die fabelhafte Welt der Mathematik: Wie lang ist die Grenze zwischen Spanien und Portugal?
Die Grenze zwischen Portugal und Spanien ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert: Mit ihrem unveränderten Bestand seit 1297 ist sie die älteste Landesgrenze Europas und damit eine der ältesten auf der Welt. Damals besiegelten der portugiesische König Dionysius und König Ferdinand IV. von Kastilien den Vertrag von Alcañices, der den bis heute geltenden Übergang zwischen den Ländern festlegt. Zudem handelt es sich dabei um die längste durchgängige Landesgrenze der Europäischen Union. Doch wie lang ist sie wirklich? Das lässt sich nicht genau sagen.
Das Problem fiel erstmals auf, als der Mathematiker Lewis Fry Richardson (1881–1953) im Jahr 1951 untersuchte, wie sich die Länge einer Grenze zwischen zwei Staaten auf die Wahrscheinlichkeit eines Krieges zwischen ihnen auswirkt. Der überzeugte Pazifist setzte seine mathematischen Fähigkeiten ein, um verschiedenste Zusammenhänge in anderen Disziplinen zu ergründen, unter anderem in der Kriegsführung. Als er sich bei seinen Studien der Grenze zwischen Portugal und Spanien widmete, fiel ihm etwas Seltsames auf: In portugiesischen Quellen fand er stets eine Angabe von 1214 Kilometern, während spanische Texte von 987 Kilometern Länge sprachen.
Lag da ein Missverständnis vor? Schließlich gab es keine territorialen Streitigkeiten zwischen beiden Staaten. Hatten die Spanier vielleicht einen kleinen Schlenker der Grenze, der mehr als 200 Kilometer ausmacht, übersehen? Als sich Richardson weiter mit dem Thema beschäftigte, fand er noch mehr Besonderheiten. Auch die Grenze zwischen Belgien und den Niederlanden tauchte in der Literatur mit unterschiedlichen Längen auf, mal betrug sie 380, mal 449 Kilometer.
Einfach nur falsch gemessen?
Um diese Unstimmigkeiten aufzuklären, untersuchte der Mathematiker, wie man die Länge einer Grenze überhaupt bestimmt. Damals bestand die Methode darin, eine große Karte oder Aufnahme des Gebiets zu nehmen und mit vielen kleinen Linealen die zu vermessende Grenze nachzuzeichnen. Aus den Linealen lässt sich dann die Gesamtlänge berechnen. Je kleiner man aber diese Lineale wählt, desto größer wird das Ergebnis, fiel Richardson auf. Das erklärte die verschiedenen Angaben: Die Portugiesen hatten einen anderen Maßstab gewählt als die Spanier – Problem gelöst.
Na ja, nicht ganz. Denn die Frage, wie lang die Grenze zwischen Portugal und Spanien wirklich ist, ist mit dieser Erkenntnis nicht beantwortet. Mit Erschrecken stellte Richardson zudem fest, dass die Länge von Grenzen und Küstenlinien in manchen Fällen immer weiter anwächst, wenn man die Maßstäbe verkleinert. Er hatte eigentlich erwartet, dass sich die Längen auf einen endlichen Grenzwert zubewegen, je genauer man hinschaut. Dieser entspräche dann der tatsächlichen Länge. Doch in den allermeisten Fällen ist das nicht so. Inzwischen ist dieses unerwartete Phänomen als Richardson-Effekt bekannt.
Obwohl der Mathematiker seine Arbeit veröffentlichte, nahm die Fachwelt sie kaum wahr. Erst 1967, 14 Jahre nach seinem Tod, griff Benoît Mandelbrot die Erkenntnisse Richardsons wieder auf – und präsentierte eine einleuchtende Erklärung. In seinem Fachaufsatz »How long is the coast of Britain?« untersuchte er die Küstenlinie Großbritanniens, dessen Westküste besonders zerklüftet ist. Richardson hatte bereits eine Formel für den nach ihm benannten Effekt angegeben: Die Anzahl n der benötigten Lineale ist proportional zu l–D, wobei l die Länge der Maßstäbe und D eine Konstante ist, die von Beispiel zu Beispiel variiert.
Dimensionen sind nicht immer ganzzahlig
Wie Mandelbrot erkannte, ist D nicht nur irgendeine Konstante; vielmehr spielt sie eine wichtige Rolle beim Verständnis des zu Grunde liegenden Problems. Wenn die Grenze, die man untersuchen möchte, beispielsweise eine gerade Linie wäre, dann hätte D den Wert eins. Wenn man die Länge l der Lineale halbiert, mit denen man die Linie abdecken möchte, braucht man doppelt so viele: n ∝ (½l)–1.
Betrachtet man hingegen eine ebene, zweidimensionale Fläche, die mit vier Fliesen der Seitenlänge l bedeckt ist, braucht man 16 Kacheln mit Seitenlänge ½l, um die gleiche Fläche zu füllen. Hier wächst die Anzahl also quadratisch (und nicht linear wie im Fall der Geraden) mit der Länge der Maßstäbe an. Mandelbrot bemerkte, dass D in der Ebene der Zahl zwei entspricht. Das Ganze lässt sich auch in drei Dimensionen durchspielen, wo man D = 3 erhält.
Auf diese Weise erkannte er, dass D offenbar der Dimension des zu vermessenden Objekts entspricht. Im Fall von Küstenlinien und Grenzen nimmt die Dimension allerdings gebrochenzahlige Werte an. Solche »fraktalen« Dimensionen klingen zunächst ziemlich abwegig. Doch wenn man es genauer durchdenkt, erkennt man, dass die natürlichen Zahlen nicht ausreichen, um jedem Objekt gerecht zu werden. Eine gewöhnliche Kurve würde man wohl ohne zu zögern als eindimensionale Figur kategorisieren. Aber was ist, wenn sie ein Rechteck vollständig ausfüllt? Ist die Kurve dann immer noch eindimensional?
Das Konzept der »Länge« verliert an Bedeutung
Indem man die Vorstellung rein ganzzahliger Dimensionen aufgibt, kann man mit der von Mandelbrot und Richardson entwickelten Methode die fraktalen Dimensionen verschiedener Küstenlinien und Landesgrenzen bestimmen. Mandelbrot führte diese Größe als eine Art Maß dafür ein, wie komplex ein Muster ist. Dabei prägte er erstmals den mathematischen Begriff des »Fraktals«. Diese inzwischen berühmt gewordenen Objekte zeichnen sich durch ihre Selbstähnlichkeit aus: Wenn man weiter hineinzoomt und mehr Details auflöst, erkennt man weitere Muster, die sich wiederholen. Solchen Strukturen kann man allerdings keine genaue Länge oder Flächeninhalt zuordnen, die Begriffe verlieren in dem Kontext an Bedeutung.
Diese als Küstenlinien-Paradoxon bekannte Tatsache macht Kartografen das Leben schwer. Denn in der Praxis ist man darauf angewiesen, einer Küstenlänge einen Wert zuzuordnen. Schließlich ist beispielsweise die Küste von Russland eindeutig länger als die von Deutschland – deshalb braucht man ein Maß. Man darf jedoch nicht vergessen, dass Landesgrenzen und Küstenlinien keine Fraktale im streng mathematischen Sinn sind. Die Grenzen lassen sich nicht unendlich fein auflösen. Möchte man die Längen allerdings möglichst genau vermessen, muss man zuvor einige Standards festlegen: Bestimmt man die Küstenlinie bei Ebbe oder Flut? Welche Auflösung wählt man? Berücksichtigt man große Felsen, die ins Meer hineinragen? Und wenn ja, bis zu welcher Größe? Wenn man eine solche Genauigkeit an den Tag legt, muss man sich zudem darüber im Klaren sein, dass gewisse Faktoren wie Erosion und andere Landbewegungen das Ergebnis künftig verfälschen werden.
Bisher gibt es noch keine international einheitliche Standards, um Küstenlinien oder Grenzlängen zu bestimmen. Daher findet man je nach Quelle unterschiedliche Angaben, die sich teilweise erheblich unterscheiden. Berücksichtigt man zum Beispiel bei der Küstenlänge Norwegens die unzähligen Fjorde, erhält man einen Wert von knapp 25 000 Kilometern. Löst man die Fjorde hingegen nicht auf, hat die Küstenlinien bloß eine Länge von zirka 2650 Kilometern. Im US-Bundesstaat Washington hat man sich allerdings Ende der 1990er Jahre auf eine Methode geeinigt, um das Küstengebiet einheitlich zu vermessen: Helikopter folgten während der Ebbe dem Verlauf der Küste in niedriger Flughöhe. Doch gab es Situationen, in denen die Piloten nicht wussten, was sie machen sollten, zum Beispiel wenn sie auf menschengemachte Stege trafen.
Das Küstenlinien-Paradox verdeutlicht damit, wie abstrakte Mathematik im Bereich von Fraktalen und Unendlichkeiten ein sehr praktisches Problem verursacht. Damit zeigt sich das Fach von einer alles andere als lebensfernen Seite.
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