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Die fabelhafte Welt der Mathematik: Der erste Rechenfehler der Menschheit drehte sich um Bier

Auf einer 5000 Jahre alten Tontafel hat sich jemand verrechnet. Die Gerstenmenge für eine Brauerei wurde falsch zusammengezählt. Es ist der erste bekannte Rechenfehler der Geschichte.
Biersorten
Auf mesopotamischen Tontafeln wurden Getreidelieferungen für die Bierproduktion aufgezeichnet. Doch manche enthielten Rechenfehler.

Ich verrechne mich ständig. Das mag einige überraschen, da ich ein großer Mathe-Fan bin, aber Kopfrechnen ist einfach nicht meine Stärke. Das ist an sich kein Widerspruch: In der modernen Mathematik geht es nur selten darum, konkrete Zahlen miteinander zu addieren oder zu multiplizieren. Die Anfänge des abstrakten Fachs gehen jedoch sicherlich auf die Arithmetik zurück. Schließlich ist es nicht sonderlich sinnvoll, sich über so etwas wie Primzahlen oder Flächeninhalte Gedanken zu machen, wenn man kein Konzept für die Multiplikation und Division von Zahlen hat.

Welche mathematischen Fähigkeiten vergangene Zivilisationen hatten, kann man teils nur schwer abschätzen. Häufig lässt sich das einzig anhand von Schriftstücken nachvollziehen – die Rechenkünste von schriftlosen Völkern sind daher in der Regel unbekannt. Die ersten eindeutigen Aufzeichnungen von komplizierteren Berechnungen finden sich auf mesopotamischen Tontafeln. Und mit den ersten Kalkulationen tauchten auch die ersten Rechenfehler auf. Heute können wir mit einem Radiergummi oder einem Tintenkiller einen Irrtum schnell ausbessern. Wenn ein Fehler aber in eine Tontafel graviert ist, stellt sich die Angelegenheit etwas schwieriger dar – und kann selbst nach 5000 Jahren noch als Beispiel dienen.

Viele Menschen denken, Mathematik sei kompliziert und öde. In dieser Serie möchten wir das widerlegen – und stellen unsere liebsten Gegenbeispiele vor: von schlechtem Wetter über magische Verdopplungen hin zu Steuertricks. Die Artikel können Sie hier lesen oder als Buch kaufen.

Der womöglich erste schriftlich festgehaltene Rechenfehler der Menschheitsgeschichte findet sich auf einer Tontafel, die zusammen mit anderen in der Nähe der mesopotamischen Stadt Uruk, der heutigen irakischen Stadt Al-Warka, bei Ausgrabungen entdeckt wurde. Analysen ergaben, dass die Tafeln im Zeitraum von 3400 bis 3000 vor unserer Zeitrechnung beschrieben wurden – also vor mindestens 5000 Jahren. Anders, als man vielleicht vermuten würde, enthalten die Tafeln keine mythologischen Überlieferungen oder preisen einen König oder eine Gottheit; vielmehr sind sie eher praktischer Natur: Sie stammen größtenteils aus dem Steuer- und Rechnungswesen.

So auch die Tontafel mit dem Rechenfehler, auf der Lieferungen von Gerste verzeichnet wurden. Außerdem enthält die Tafel wohl die erste Nennung des Namens einer Person: Kuschim, auf Sumerisch durch die zwei Schriftzeichen 𒆪 (Ku) und 𒋆 (schim) dargestellt. Der Name taucht auf 18 verschiedenen bisher gefundenen Tontafeln auf. Es ist unklar, ob es sich dabei wirklich um eine einzige Person (einen Buchhalter oder eine Buchhalterin) handelte – oder ob Kuschim einen Beruf oder eine ganze Organisation bezeichnete.

Knapp 20 000 Liter Gerste für Bier

Kuschim (als Person, Organisation oder Beruf) war offenbar für den Handel von Gerste zur Bierproduktion verantwortlich. Auf den Tontafeln finden sich verschiedene Symbole, die als Mengenangabe dienten: Eine Schale steht für ein Volumen von 4,8 Litern, ein halbes Ei entspricht 5 Schalen, ein kleiner Kreis sind 6 halbe Eier (also 30 Schalen), ein großer Kreis ist das Symbol für 10 kleine Kreise (300 Schalen), ein großes halbes Ei steht für 3 große Kreise (900 Schalen), und schließlich steht ein großes halbes Ei mit Punkt für 10 große halbe Eier (9000 Schalen). Die letztgenannte Einheit symbolisiert also ein Volumen von 43 200 Litern. Daran lässt sich erkennen, dass Kuschim nicht mit kleinen Mengen handelte.

Sumerisches Mengensystem | Auf mesopotamischen Tontafeln finden sich Mengenangaben für Getreide. Eine »Schale« (ganz oben) entspricht dabei 4,8 Litern.

Auf einer dieser Tontafeln, die »Nisa« (auf Sumerisch: 𒉌 𒊓, entweder eine Person oder eine Institution) gegenzeichnete, findet sich eine Aufzählung eingegangener Getreidelieferungen. Diese kamen vermutlich über mehrere Monate an. Auf der Rückseite der Tafel ist die gelieferte Gesamtmenge der Gerste verzeichnet. Die auf der Vorderseite aufgelisteten Eingänge sind: 8 kleine halbe Eier (40 Schalen), 19 kleine Kreise (570 Schalen), 2 große Kreise (600 Schalen) und 3 große halbe Eier (2700 Schalen). Insgesamt sind 3910 Schalen an Getreide verzeichnet, was etwa 18 768 Litern entspricht. Auf der Rückseite der Tontafel ist das zusammengerechnete Ergebnis in den – zumindest für uns – ungewohnten Einheiten dargestellt: 5 kleine halbe Eier (25 Schalen), 9 kleine Kreise (270 Schalen) und 4 große halbe Eier (3600 Schalen), was zusammen 3895 Schalen ergibt.

Offenbar haben Kuschim und Nisa beim Zusammenzählen 3 kleine halbe Eier übersehen, was die fehlenden 15 Schalen (72 Liter) im Gesamtergebnis erklärt. Das erscheint plausibel, da ein Dreiergrüppchen von halben Eiern tatsächlich in einer Ecke der Tontafel auftaucht. Vielleicht haben sich Kuschim und Nisa aber nicht verrechnet, sondern die fehlende Menge unterschlagen. Schließlich ist es mit einem gewissen Aufwand verbunden, die Symbole miteinander zu verrechnen. Darüber lässt sich allerdings nur mutmaßen: Im Nachhinein lässt sich kaum rekonstruieren, wie es zu diesem Fehler kam.

Eines ist jedoch klar: Es sollte nicht der letzte aufgezeichnete Rechenfehler bleiben. Auf jüngeren Tontafeln finden sich weitere Irrtümer. So erscheint auf einer anderen mesopotamischen Tafel, die eine Art Multiplikationstabelle enthält, folgende falsche Berechnung mit Bruchzahlen (hier durch unsere gewohnten arabischen Ziffern dargestellt): 5 · ½ = 5.

Wenn Sie sich also demnächst irgendwo verrechnen und sich über den Fehler ärgern, tröstet Sie vielleicht der Gedanke, dass die Menschheit nachweislich seit mehr als 5000 Jahren Rechenfehler macht. Die Wahrscheinlichkeit, dass ausgerechnet Ihr Fehler in ferner Zukunft als Beispiel aufgeführt wird, ist äußerst gering.

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