Lobes Digitalfabrik: Die Stadt wird zum Panoptikum
Der Soziologe Georg Simmel beschrieb in seinem Aufsatz »Die Großstädte und das Geistesleben« aus dem Jahr 1903 das Leben in der Großstadt als hektisch, anonym und sozial distanziert. Doch mit der Anonymität in Städten ist es im digitalen Zeitalter nicht mehr allzu weit her. Der urbane Raum ist mit immer mehr Sensoren ausgestattet. An bald jeder Ecke werden Kameras und Gesichtserkennungssysteme installiert. Früher konnte man sie noch als solche erkennen, aber mittlerweile verstecken sie sich in Straßenlaternen oder werden als harmloses Stadtmöbel in den öffentlichen Raum geschleust. In einigen Städten Chinas werden Fußgänger, die bei Rot über die Straße gehen, per Gesichtserkennung identifiziert und als Verkehrssünder auf Bildschirmen an den Pranger gestellt; der Bußgeldbescheid wird automatisch aufs Smartphone zugestellt. In den USA sind in mehr als 100 Städten akustische Sensoren (so genannte »ShotSpotter«) auf Häuserdächern installiert, die Schüsse lokalisieren und automatisch die Polizei alarmieren.
Vom Parkplatz bis zur Straßenlaterne hinterlassen wir einen riesigen Datenschweif, aus dem man detaillierte Bewegungsprofile und Gewohnheitsmuster ableiten kann. Die Frage ist, ob man sich überhaupt noch anonym im öffentlichen Raum bewegen kann, ohne ständig sein Gesicht als Nummernschild mit sich herumzutragen.
Kann man der omnipräsenten Überwachung entkommen? Gibt es ein Opting-out? Während Datenschützer und Bürgerrechtler die Präzision und Sehschärfe von Kamerasystemen begrenzen wollen, will die Obfuscation-Bewegung die Technik mit ihren eigenen Waffen schlagen.
Der Künstler Adam Harvey hat ein System namens Hyperface entwickelt, das durch multiple Bildrepräsentationen Gesichtserkennungssoftware austricksen soll. Das System funktioniert vereinfacht so: Per Computer werden algorithmische Repräsentationen eines Gesichts generiert, die sich zu einem Muster zusammenfügen. Diese Hyperface-Struktur, die ein wenig aussieht, als würde man eine Menschenmasse mit zusammengekniffenen Augen in Schwarz-Weiß ansehen, irritiert die Algorithmen dergestalt, dass sie in der Vielzahl von Gesichtern keine biometrischen Merkmale einer bestimmten Person zuordnen können. Es ist, als würde man tausende Datenpakete in einen Trichter stopfen, bis die Maschine ins Stottern kommt.
Das Leben in der Stadt darf nicht zum Maskenball oder zur digitalen Schnitzeljagd verkommen
Andere Camouflage-Techniken operieren mit Kopfbedeckung oder asymmetrischer Gesichtsbemalung, welche die maschinellen Systeme in die Irre führen sollen. Das ist subtiler und subversiver als eine Sonnenbrille oder eine Maske, die einen Verdacht erzeugt. So kann man sein Gesicht wahren, ohne sich gleich vor der Überwachungstechnologie nackt beziehungsweise ehrlich machen zu müssen. Es ist bekannt, dass Gesichtserkennungssysteme noch immer Probleme bei biologischen Alterungsprozessen oder Veränderungen der Frisur haben.
Die Idee der Obfuskation (englisch »to obfuscate«, vernebeln, unklar machen, verwirren) ist es, dass man sich zwar nicht unsichtbar machen, aber zumindest in Datenwolken umhüllt verbergen kann. Die Website »Internet Noise« generiert etwa durch das Aufrufen randomisierter Seiten eine Fake-Browserhistorie, die das tatsächliche Suchinteresse des Nutzers vernebelt und so die Informationen für Webseitentracker entwertet.
Ein anderer Ansatz ist es, Informationen für einen entscheidenden Zeitraum unkenntlich zu machen. In den USA werden seit geraumer Zeit so genannte Kamera-Jammer für Autos verkauft, spezielle Geräte, die unter dem Nummernschild befestigt werden und beim Rotlicht der automatischen Kennzeichenerfassung einen Blitz auslösen, so dass das Kennzeichen für den Bruchteil einer Sekunde unlesbar wird. Man muss sein Kennzeichen nicht abschrauben, um unerkannt auf öffentlichen Straßen unterwegs zu sein, was ohnehin nicht zulässig wäre. Gleichwohl: Die technischen Vorrichtungen sind illegal – die Polizei geht mittlerweile scharf dagegen vor.
Das israelische Start-up D-ID entwickelt derweil eine Software, die Gesichter auf Fotos vor unautorisierten, automatisierten Gesichtserkennungssystemen schützen soll. Das Programm modifiziert die biometrischen Punkte im Gesicht dergestalt, dass sie zwar für das menschliche Auge noch erkennbar sind, für Gesichtserkennungsalgorithmen jedoch nicht mehr. »Eine Firewall für Ihre Identität«, wirbt D-ID auf seiner Website.
Das Problem ist, dass die Computerisierung von Städten der Privatsphäre zuwiderläuft. Denn damit die intelligenten Systeme funktionieren – etwa Beleuchtungssysteme, die sich nur bei Bedarf aktivieren –, müssen sie jede Menge Daten über die Bürger sammeln. Wer bewegt sich wann wohin? Wie viele Menschen laufen nachts an der Kreuzung XY über die Straße? Wie häufig wird das Rotlichtviertel frequentiert? Die Erhebung der Daten mag anonymisiert und auf einer quantitativen Ebene erfolgen. Doch letztlich führt die Stadt mit solchen Analytics-Systemen eine permanente und zum Teil verdeckte Volkszählung durch, was zumindest hier zu Lande Fragen nach dem Datenschutz aufwirft.
Der Stanford-Jurist Albert Gidari argumentiert, dass smarte Städte zu smart für die Privatsphäre seien, weil sie so viele Dinge über den Ablauf des städtischen Geschehens wissen, dass sie nicht einfach die Augen vor den Gewohnheiten der Bewohner verschließen könnten. Er wünsche sich keine dumme Stadt, so Gidari, aber zumindest eine, die datenschutzrechtlichen Erwägungen Rechnung trägt, bevor sie überall Sensoren und Kameras installiert.
Man wird angesichts der Allgegenwart der Überwachungstechnologie im öffentlichen Raum – allein in China sollen so bis 2020 rund 620 Millionen Kameras in Betrieb sein – allerdings nicht verhindern können, dass das eigene Konterfei in irgendwelchen biometrischen Datenbanken landet und dort von Algorithmen ausgewertet wird. Auch das Setzen falscher Fährten ist auf Dauer müßig, weil die maschinell lernenden Systeme immer besser werden. Das Leben in der Stadt darf nicht zum Maskenball oder zur digitalen Schnitzeljagd verkommen. Die von Datenschützern gehegte Hoffnung, dass die algorithmischen Systeme in den Datenmengen ertrinken werden und kaum noch belastbare Ergebnisse produzieren können, wird sich wohl als Trugschluss erweisen. Die smarten Städte der Zukunft werden sich in ein elektronisches Panoptikum verwandeln, in dem das System genau weiß, wer was zu welcher Zeit tut.
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