Springers Einwürfe: Mächtige Männchen, willige Weibchen?
Im 19. Jahrhundert lag die Erkenntnis quasi in der Luft, dass die Vielfalt der Lebensformen einem geologische Zeiträume umfassenden Prozess entstammt. So publizierte Charles Darwin seine »Entstehung der Arten«, als Alfred Russel Wallace ihm mit einer praktisch identischen Evolutionslehre zuvorzukommen drohte. Hingegen war Darwins späteres Werk über »Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl« absolut originell – und wirkte entsprechend skandalös. Vor allem der Nachweis der biologischen Nähe von Mensch und Affe wurde als tiefe Kränkung unserer Einzigartigkeit empfunden. Viel weniger provokant fand man erstaunlicherweise Darwins Parallelisierung der Sexualität von Tier und Mensch. Warum eigentlich?
In ihren Grundzügen gilt Darwins Theorie der sexuellen Selektion bis heute: Das Männchen signalisiert dem anderen Geschlecht Potenz und gute Fitness, etwa durch Sieg im Duell mit Artgenossen, durch spektakuläre Balztänze oder durch prachtvolle Attribute. Also lässt sich ein gesundes Weibchen herbei, mit dem Auserwählten zu kopulieren, und so pflanzt sich vorteilhaftes Erbgut fort.
Während der anderthalb Jahrhunderte seit Darwin hat dieses »züchtige« Bild tierischen Sexlebens sehr viel mehr Rouge aufgelegt. Aus heutiger Sicht ist der Begründer der Evolutionslehre ein prüdes und misogynes Kind seiner Zeit gewesen, konstatieren die Biologen Gil G. Rosenthal von der Universität Padua und Michael J. Ryan von der University of Texas in Austin.
Darwins Weibchen verhalten sich wie brave Bräute, um welche die männlichen Heiratsanwärter mit Imponiergehabe herumstolzieren, bis die schönste Uniform endlich den Ausschlag gibt. Für Darwin war mit der Partnerwahl die Sache erledigt, wie beim Happy End im viktorianischen Roman: Die beiden kriegen sich.
Die Natur ist kein biederer Liebesroman
In Wirklichkeit fangen damit die Probleme erst an. Tatsächlich ist der weibliche Part ein komplizierter interaktiver Prozess, der nicht nur vor, sondern auch während und nach der Begattung stattfindet. Manchmal verfügen die Weibchen über äußerlich unsichtbare Auswahlmechanismen, zum Beispiel Vaginalformen, deren komplizierte Umwege einen nicht passend geformten Penis am Eindringen hindern. Oft müssen die Spermien auf dem Weg zur Eizelle einen eigenen Konkurrenzkampf bestehen, weil das Weibchen kurz hintereinander mit mehreren Männchen kopuliert hat. Und unter afrikanischen Antilopen herrscht durchaus die Sitte, dass mehrere Weibchen im Kampf um ein männliches Prachtstück aggressiv die Hörner kreuzen.
In der viktorianischen Epoche gab es eben noch keinen Kinsey-Report, der – wie die Untersuchung des menschlichen Sexualverhaltens durch Alfred Charles Kinsey um 1950 – Darwins Zeitgenossen über die tatsächliche Vielfalt und Verbreitung aller möglichen sexuellen Praktiken informiert hätte. Deshalb ging es nach damaligem Verständnis auch im Tierreich so ungemein gesittet zu wie in einem biederen Liebesroman. Da gab es weder Homosexualität noch Fetischismus, weder Promiskuität noch Gruppensex, weder Masturbation noch Stimulation der Klitoris.
Wie man heute weiß, ist all das unter Tieren gang und gäbe. Ob Darwin davon eine Ahnung hatte und sich nur hütete, darüber zu schreiben, oder ob er die Spielarten tierischer Sexualität aus Prüderie komplett verdrängte? Das bleibt eine Facette seiner Biografie.
Seither sind die Rollenbilder von Mann und Frau in Bewegung geraten, das soziale Geschlecht (englisch »gender«) emanzipiert sich allmählich vom biologischen (»sex«). Davon bleibt unser Verständnis der sexuellen Selektion ebenfalls nicht unberührt.
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