Die fabelhafte Welt der Mathematik: Maryam Mirzakhani und die Suche nach Kurven auf Donuts
Richtig erfolgreiche Mathematikerinnen sind leider noch immer recht rar. Erst im Jahr 2014 befand sich erstmals eine Frau unter den vier Gewinnern der Fields-Medaille. Dabei handelt es sich um eine der prestigeträchtigsten mathematischen Auszeichnungen. Häufig wird sie mit dem Nobelpreis verglichen; allerdings wird sie nur an herausragende Fachleute unter 40 Jahren vergeben. Die erste weibliche Gewinnerin war Maryam Mirzakhani, die schon seit ihrer Jugend im Iran durch ihre beeindruckenden Leistungen herausstach. Sie widmete sich der Geometrie von Oberflächen und prägte diesen Bereich in besonderer Weise bis zu ihrem verfrühten Tod im Jahr 2017. Bis heute dient sie vor allem jungen Frauen als Vorbild.
Mirzakhani wuchs in Teheran während des brutalen Kriegs zwischen Iran und Irak auf. In der Grundschule war sie nicht besonders gut in Mathematik – damals las sie lieber Bücher und wollte eines Tages Schriftstellerin werden. Dank ihrer guten Leistungen konnte sie eine der besten Schulen des Landes besuchen, wo sie die Mitschülerin Roya Beheshti Zavareh kennen lernte, mit der sie ihr ganzes Leben eng befreundet blieb. Zusammen mit Zavareh entdeckte Mirzakhani eine ausgeprägte Leidenschaft für Mathematik. Mit ihrem Können stachen die beiden Schülerinnen heraus. Sie durften als erste Iranerinnen 1994 an der Mathematik-Olympiade teilnehmen – mit beeindruckendem Ergebnis: Mirzakhani erhielt die Gold-, Zavareh die Silbermedaille. Nach einem Studium an der Teheraner Scharif-Universität für Technologie, bewarben sich die beiden Freundinnen gemeinsam um Stipendien an Elite-Universitäten in den USA: Mirzakhani an der Harvard University und Zavareh am Massachusetts Institute of Technology. Beide wurden akzeptiert und fingen ihre Promotion in Boston an.
Während dieser Zeit machte Mirzakhani bereits erstaunliche mathematische Entdeckungen im Bereich der Geometrie. Ihr Betreuer Curtis McMullen ist ein angesehener Mathematiker, der 1998 mit der Fields-Medaille ausgezeichnet wurde. Unter seiner Aufsicht begann sie, sich mit Kurven auf einer donutförmigen Oberfläche, einem so genannten Torus, zu beschäftigen.
Wanderungen auf einem donutförmigen Planeten
Um zu verstehen, was sie genau erforschte, kann man folgendes Szenario heranziehen: Stellen Sie sich vor, Sie werden von Außerirdischen entführt und auf einem fremden Planet abgeworfen. Nun möchten Sie herausfinden, welche Form der Planet hat. Sie wandern deshalb darauf herum und markieren Ihren Weg. Je nachdem, wie die zurückgelegten Wege aussehen, lässt sich auf die Form schließen.
Wenn Sie beispielsweise von einem Punkt auf einer Kugel geradeaus loslaufen, landen Sie nach einer gewissen Zeit immer wieder bei Ihrem Ausgangspunkt, ohne Ihren Weg jemals zu kreuzen. Die von Ihnen markierte Strecke auf der Kugel wird immer einen Äquator bilden. Daher gibt es auf Kugeloberflächen nur eine Klasse von »einfach geschlossener Geodäte«, nämlich den Äquator. »Einfach« bezieht sich darauf, dass der Weg keine Kreuzungspunkte enthält, während »Geodäte« Wege bezeichnet, bei denen eine Person stets geradeaus läuft.
Befinden Sie sich hingegen auf einer Donutoberfläche, kann es Wege geben, die niemals wieder ihren Ausgangspunkt erreichen. Betrachtet man bloß die geschlossenen Geodäten, so stellt man fest, dass es mehrere Klassen davon gibt: Man könnte beispielsweise bloß das mittlere Loch umkreisen (blaue Kurve im oberen Bild), um einen Henkel herumlaufen (rote Kurve im oberen Bild) oder eine Mischung aus beiden Wegen gehen (unteres Bild).
Sobald die geometrische Oberfläche mehr als ein Loch hat, wird es sehr viel schwerer, alle Klassen an einfachen geschlossenen Geodäten zu finden. Mirzakhani widmete sich in ihrer Doktorarbeit Figuren mit zwei Löchern und mehr – und ließ darüber hinaus extrem ungewöhnliche Geometrien auf diesen Objekten zu. Denn bisher haben wir nur erwähnt, wie viele Löcher eine Oberfläche besitzen kann, aber alle restlichen Details ignoriert. Um in der Analogie eines unbekannten Planeten zu bleiben: Die Oberflächen könnten beispielsweise Gebirge und Täler aufweisen.
Jeder Punkt wie ein Pringles-Chip
Wie so häufig widmen sich Mathematikerinnen und Mathematiker nicht nur anschaulichen Fällen, sondern untersuchen auch Situationen, die sich unserem Vorstellungsvermögen entziehen. So auch Mirzakhani und ihr Betreuer McMullen. Sie arbeiteten auf dem Gebiet der hyperbolischen Geometrie: Dort sieht die Umgebung jedes Punkts in einem Raum aus wie ein Pringles-Chip: Rechts und links von einem Standort geht es bergab, während es vorne und hinten bergauf geht. Tatsächlich lassen sich auch Donuts mit einer solchen Form definieren – und auch andere Oberflächen mit mehr Löchern. Mirzakhani wollte für jede davon herausfinden, wie viele verschiedene Klassen von sich nicht kreuzenden, geschlossenen Geodäten mit Maximallänge L existieren. Die Länge der Kurven muss man beschränken, weil es sonst unendlich viele Lösungen geben kann. Bis zu diesem Zeitpunkt kannte man für diese Figuren bloß die Anzahl der geschlossenen Geodäten allgemein (also auch von solchen, die Kreuzungspunkte besitzen): Deren Anzahl wächst exponentiell mit der zugelassenen Maximallänge L an, folgt also einer Gleichung der Form aL.
Wie geht man eine solche Aufgabe überhaupt an? Angenommen, man will alle Geodäten auf donutförmigen Figuren finden. Dann kann man ja schlecht alle möglichen Geometrien auf dem Donut untersuchen und für jeden Einzelfall die darauf befindlichen Geodäten zählen. Stattdessen greift man auf ein Hilfsmittel zurück, die so genannten Modulräume: Das sind mathematische Objekte, die es ermöglichen, zahlreiche geometrische Objekte gleichen Typs zu untersuchen. Anstatt also alle hyperbolischen Oberflächen mit einer festen Anzahl von Löchern einzeln zu untersuchen, sah sich Mirzakhani beispielsweise einen bestimmten Modulraum an, der viele dieser Figuren vereint.
Was zeichnet einen Kreis aus?
Das klingt zunächst einmal ziemlich abstrakt. Man kann aber auch Modulräume zu viel einfacheren Objekten definieren: zum Beispiel für Kreise. Angenommen, Sie möchten alle möglichen Arten von Kreisen in der Ebene untersuchen, die sich in ihrer Größe unterscheiden. Wie Sie wissen, lässt sich jeder Kreis durch drei Punkte mit jeweils einer x- und einer y-Koordinate eindeutig beschreiben. Um alle möglichen Kreise durch Punkte in einem abstrakten Raum darzustellen, könnte man also die x- und y-Koordinaten der drei Punkte zu einem sechsdimensionalen Punkt zusammenfassen, etwa: (x1, y1, x2, y2, x3, y3). Damit ließe sich ein sechsdimensionaler Modulraum aufspannen, bei dem jeder Punkt für einen Kreis steht. Das Problem: In diesem sechsdimensionalen Raum stehen mehrere Punkt für ein und denselben Kreis. Denn man kann auf jedem Kreis unendlich viele Dreierkombinationen von Punkten herauspicken. Tatsächlich lässt sich der Modulraum zu Kreisen in der Ebene deutlich einfacher beschreiben.
Statt einen Kreis über drei Punkte zu beschreiben, kann man ihn auch durch seinen Mittelpunkt und den Radius charakterisieren. Das vereinfacht den Modulraum erheblich. Auf diese Weise besteht er nur noch aus drei Dimensionen (x- und y-Koordinate des Mittelpunkts und eine weitere Zahl für den Radius). Möchte man allerdings, wie anfangs gefordert, lediglich Kreise unterschiedlicher Größe berücksichtigen, kann man den Modulraum noch einfacher gestalten. In diesem Fall spielt nämlich der Mittelpunkt eines Kreises keine Rolle: Wenn zwei Kreise an verschiedenen Orten in der Ebene den gleichen Radius haben, möchte man sie nicht voneinander unterscheiden. Daher muss man nur den Radius berücksichtigen – und schon hat man einen eindimensionalen Modulraum, der alle positiven reellen Zahlen umfasst. Jeder dieser Punkte (das heißt jede Zahl) entspricht einem Kreis mit dem entsprechenden Radius.
Ähnliches hat Mirzakhani auch gemacht: Sie sammelte die Parameter der Oberflächen, die sie untersuchen wollte, in einem Modulraum. Der Modulraum enthält also beispielsweise alle Figuren mit zwei Löchern, wobei ein Punkt im Raum die genaue Geometrie auf dieser Figur festlegt. Indem die Mathematikerin die Struktur dieser Modulräume untersuchte, konnte sie berechnen, wie viele einfache geschlossene Geodäten die Oberflächen besitzen – ohne dafür jede einzelne Geometrie auf ihnen zu berücksichtigen. Anders als beim allgemeinen Fall (bei denen sich kreuzende Geodäten auch zulässig sind), wächst die Anzahl der Kurven nicht exponentiell mit ihrer Länge L an. Stattdessen fand Mirzakhani heraus, dass sich ihre Anzahl durch ein Polynom berechnen lässt, also eine Gleichung der Form a + bL + cL2 + dL3 + ...
Mirzakhanis Arbeit hatte sogar Auswirkungen auf andere Fächer: Mit ihren Methoden fand sie einen neuen Beweis für eine Vermutung, die ursprünglich aus der Physik stammt. 1991 hatte der Stringtheoretiker Edward Witten eine Hypothese geäußert, die sich durch seine Forschung an einer möglichen Theorie der Quantengravitation ergab: Demnach sollten zwei zweidimensionale Modelle äquivalent sein. Die von ihm untersuchten Modelle beschäftigten sich mit so genannten Strings, eindimensionalen Objekten wie Schleifen oder Fäden. In der zweidimensionalen Version wickeln sich diese Strings um allerlei Arten von Oberflächen. Aus mathematischer Sicht hatte Wittens Forschung mit Kurven auf Oberflächen zu tun – also genau mit der Art von Problemen, an denen auch Mirzakhani arbeitete.
Mit den Durchbrüchen, die Mirzakhani während ihrer Doktorarbeit erzielte, zog die Mathematikerin die Aufmerksamkeit der Fachwelt auf sich. Schnell wurden Stimmen laut, dass sie die renommierte Fields-Medaille verdiene – die prestigeträchtige Auszeichnung, die seit 1936 höchstens alle vier Jahre an Mathematiker unter 40 Jahren verliehen wird. Als Mirzakhani Anfang des Jahres 2014 schließlich eine E-Mail erhielt, in der sie als diesjährige Gewinnerin genannt wurde, glaubte sie zunächst, es handele sich um eine Spam-Nachricht. Obwohl sie die erste Frau war, der diese Ehre zuteilwurde, blieb sie sehr bescheiden: So erfuhren Mirzakhanis Eltern, zu denen sie ein gutes Verhältnis pflegte, erst aus dem Fernsehen davon. Auf die Frage, warum sie ihnen nichts davon gesagt habe, erwiderte die Mathematikerin, sie habe es nicht als wichtig empfunden.
Durch ihre stets freundliche und teilweise zurückhaltende Art war sie bei ihren Kolleginnen und Kollegen beliebt. Sie scheute das Rampenlicht und verbrachte gerne Zeit mit ihrer Familie, ihrem Mann und ihrer Tochter. 2017, im Alter von gerade einmal 40 Jahren, starb Mirzakhani tragischerweise an Krebs. Um ihr zu gedenken, brachen die iranischen Medien ein Tabu: Sie bildeten Mirzakhani ohne Kopftuch ab – was bei iranischen Staatsbürgerinnen normalerweise nicht gemacht wird, auch wenn sie im Ausland leben. Bis heute ist sie sowohl in ihrer Heimat als auch überall sonst auf der Welt ein Vorbild für Frauen in der Wissenschaft.
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