Die fabelhafte Welt der Mathematik: Eine Wahrscheinlichkeit von null heißt nicht unmöglich
Im Gegensatz zu vielen anderen Bereichen der Mathematik erscheint die Wahrscheinlichkeitsrechnung noch recht intuitiv. Möchte man beispielsweise bestimmen, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass ein gewöhnlicher Würfel auf der Sechs landet, teilt man die Anzahl der betrachteten Ereignisse (1) durch alle möglichen, die eintreten können (6), und erhält: 1⁄6. Wenn ich hingegen frage, wie wahrscheinlich es ist, eine Acht zu würfeln, lautet das Ergebnis null. Denn eine Acht taucht auf einem gewöhnlichen W6-Würfel nicht auf. Die Wahrscheinlichkeit von null bedeutet also, dass das Ereignis niemals eintritt. Doch das ist nicht immer so.
Das lässt sich am Beispiel von Darts erläutern. Wenn der professionelle Darts-Spieler Michael van Gerwen die Pfeile wirft, landen sie höchstwahrscheinlich immer auf der Scheibe. Angenommen, er würde dabei keinen speziellen Bereich anvisieren – also nicht auf irgendein Double- oder Triple-Feld zielen –, sondern die Pfeile nach und nach einfach nur auf der Scheibe verteilen, damit jeder Punkt etwa gleich wahrscheinlich (mit Wahrscheinlichkeit p) getroffen wird. Wie groß ist in diesem Fall die Chance, dass er einen ganz bestimmten Punkt auf der Scheibe trifft?
Sie ahnen vielleicht schon, worauf das Beispiel hinausläuft: Die Dartscheibe besteht aus unendlich vielen Punkten. Van Gerwens Pfeil bleibt mit absoluter Sicherheit irgendwo in der Scheibe stecken, das heißt, die Wahrscheinlichkeit, dass er einen der unendlich vielen Punkte trifft, beträgt eins: Σp = 1. Hiermit steht man vor einem Problem: Wie groß ist die Treffwahrscheinlichkeit p eines einzelnen Punkts, wenn die unendliche Summe von p eins ergibt? Hat p einen endlichen Wert – egal wie klein –, führt die unendliche Addition zwangsläufig zu einem unendlich großen Ergebnis. Ist p hingegen null, gilt das auch für die Summe von p. Wie man es auch dreht: Eine Gesamtwahrscheinlichkeit von eins für einen Treffer auf der Dartscheibe bekommt man auf diese Weise nicht.
Ein unendlich großer Ereignisraum
Dieses Problem wird auch Dartscheiben-Paradoxon genannt. Gelöst wird es durch die Erkenntnis, dass eine Wahrscheinlichkeit von null nicht zwangsläufig bedeutet, dass ein Ereignis niemals eintritt – sondern nur, dass es »fast sicher« nicht eintritt. Das klingt einleuchtend: Wenn man sich von unendlich vielen Punkten auf einer zweidimensionalen Scheibe genau einen herauspickt, wäre es schon sehr überraschend, dass van Gerwens Pfeil exakt darin stecken bleibt – und nicht einen Mikrometer weiter links. Aber irgendwo in einem der unendlich vielen Punkte der Dartscheibe wird der Pfeil mit Sicherheit landen.
Woher weiß man nun, ob man es mit einem tatsächlich unmöglichen Ereignis (etwa, eine Acht mit einem W6-Würfel zu würfeln) oder einem fast unmöglichen Ereignis (einen bestimmten Punkt auf der Dartscheibe treffen) zu tun hat? Das hängt von der Anzahl der möglichen Ereignisse ab, dem so genannten Ereignisraum: Ist der Ereignisraum endlich (bei einem Würfel besteht er aus sechs Elementen: den sechs Seiten, auf denen er liegen bleiben kann), dann bedeutet eine Wahrscheinlichkeit von null, dass das betrachtete Ereignis niemals eintreten wird. Betrachtet man hingegen einen unendlich großen Ereignisraum (wie die möglichen Treffpunkte auf einer Dartscheibe), dann bedeutet eine Wahrscheinlichkeit von null nicht zwangsläufig, dass das Ereignis nicht eintritt – sondern nur, dass es sehr unwahrscheinlich ist.
Das heißt aber nicht, dass man mit unendlich großen Ereignisräumen nicht mehr sinnvoll rechnen kann. Man braucht nur einen leichten Perspektivwechsel. Stellen Sie sich beispielsweise vor, van Gerwen visiert das Triple-20-Feld auf einer Dartscheibe an und wirft zehn Pfeile hintereinander ab (wobei sie nach jedem Wurf entfernt werden, damit sie sich nicht in die Quere kommen). Theoretisch kann jeder Pfeil zwar immer noch unendlich viele Punkte auf der Scheibe treffen; weil van Gerwen aber ein Profi ist, werden die Pfeile wohl nicht gleichmäßig über die Scheibe verteilt sein. Zum Beispiel könnten neun Stück das Triple-20-Feld getroffen haben, während ein Pfeil vielleicht im Einser-Feld gelandet ist. Daraus lässt sich eine Wahrscheinlichkeit dafür berechnen, dass van Gerwen das Triple-20-Feld trifft: 9 von 10 Mal. Um das Ergebnis abzusichern, kann man ihm noch mehr Pfeile aushändigen und die Statistik pflegen.
Van Gerwens Wurfprofil lässt sich sogar visuell darstellen: Indem man gewichtet, wie viele Pfeile pro Fläche einschlagen, kann man eine »Wahrscheinlichkeitsdichte« definieren, eine Art zweidimensionale Landschaft, die sich über die Scheibe legt. Je höher ihr Wert, desto wahrscheinlicher trifft ein Pfeil in diesem Bereich ein. Damit lassen sich durchaus Trefferwahrscheinlichkeiten für bestimmte Bereiche angeben, etwa dafür, dass van Gerwen das Triple-20-Feld trifft. Je kleiner man jedoch den Bereich wählt, desto kleiner wird auch die Wahrscheinlichkeit – bis sie für einen einzelnen Punkt ganz verschwindet. Und das macht auch Sinn: Im echten Leben interessiert uns nicht, wie hoch die Trefferquote für einen einzelnen Punkt ist. Wenn der Pfeil auf einen um eine winzige Distanz verschobenen Punkt trifft, ist das genauso gut. Daher spielen in realistischen Szenarien ohnehin nur endliche (wenn auch möglicherweise sehr kleine) Intervalle eine Rolle.
Um die Wahrscheinlichkeitsdichte besser zu verstehen, hilft es, ein eindimensionales Intervall statt einer zweidimensionalen Scheibe zu betrachten. Angenommen, ein idealer Zufallsgenerator gibt eine reelle Zahl zwischen 0 und 1 aus. Die Wahrscheinlichkeitsdichte kann eine Funktion der Form f(x) sein. Der Generator gibt mit Sicherheit eine Zahl aus, also beträgt die Wahrscheinlichkeit, dass das Ergebnis zwischen 0 und 1 liegt, 100 Prozent. Für die Wahrscheinlichkeitsdichte bedeutet das: Die Fläche unterhalb der Funktion auf dem Intervall [0, 1] beträgt eins. Denn genau das ist die Bedeutung einer Wahrscheinlichkeitsdichte: Sie gibt die Wahrscheinlichkeit pro Fläche oder Volumen an. Um also herauszufinden, mit welcher Wahrscheinlichkeit die Zufallszahl größer als 0,5 ist, muss man die Fläche bestimmen, die die Funktion f(x) oberhalb von x = 0,5 mit der x-Achse einschließt. Der Generator wird allerdings nur mit einer Wahrscheinlichkeit von null genau das Ergebnis 0,5 ausspucken. Schließlich könnte er auch das Ergebnis 0,5000000000001 liefern oder 0,49999999999999998 – ähnlich wie der Dartpfeil ganz leicht neben einem Punkt landen kann. Das heißt: Sobald man ein Intervall innerhalb von [0, 1] betrachtet, kann man eine endliche Wahrscheinlichkeit dafür angeben, dass der Zufallsgenerator eine darin befindliche Zahl liefert. Ist man hingegen an der Wahrscheinlichkeit bestimmter Zahlen interessiert, wird das Ergebnis immer null betragen – auch wenn das Ereignis nicht unmöglich ist.
Mit welcher Wahrscheinlichkeit trifft man bei einem Zahlenstrahl auf einen Bruch?
Richtig merkwürdig wird es, wenn man kompliziertere Fragen stellt. Zum Beispiel: Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass der ideale Zufallsgenerator eine Bruchzahl (also eine rationale Zahl) ausgibt? Man möchte also wissen, wie wahrscheinlich es ist, innerhalb reeller Zahlen auf eine rationale zu stoßen. Dafür muss man die Größenverhältnisse beider Mengen kennen – und kommt schnell mit Unendlichkeiten in Berührung.
Tatsächlich gibt es nicht nur eine Unendlichkeit, sondern gleich unendlich viele. So unterscheidet man beispielsweise zwischen der Unendlichkeit der natürlichen Zahlen und der reellen Zahlen: Während man natürliche Zahlen wie 1, 2, 3, … lückenlos auflisten kann, ist das mit reellen Zahlen unmöglich. Eine Aufzählung existiert nicht, selbst wenn die Liste unendlich lang ist. Denn zwischen zwei reellen Zahlen findet man immer eine weitere, die dazwischensteckt. Auch wenn man vermuten würde, dass das bei Bruchzahlen ebenso ist, lassen diese sich dennoch wie die natürlichen Zahlen aufzählen, zum Beispiel, indem man sie nach der Größe ihres Nenners ordnet: 1⁄1, 1⁄2, 1⁄3, 2⁄3, 1⁄4, 3⁄4, 1⁄5, 2⁄5, 3⁄5, 4⁄5, … Damit haben wir zwei Kategorien von Unendlichkeiten ausgemacht: abzählbare Unendlichkeit, wie die der natürlichen oder rationalen Zahlen, und überabzählbare Unendlichkeit, wie die der reellen Zahlen. Und auch wenn beides unvorstellbare Größen sind, ist ihr Unterschied erheblich.
Zurück zu unserer ursprünglichen Frage: Wie wahrscheinlich ist es, innerhalb eines kontinuierlichen Intervalls zufällig eine rationale Zahl auszuwählen? Hätte man bloß endlich viele Bruchzahlen A und endlich viele reelle Zahlen B, müsste man für die Antwort bloß A⁄B berechnen. Doch da beide Mengen unendlich viele Zahlen enthalten, kann man nicht einfach die Unendlichkeiten durcheinander teilen. Dennoch gibt es eine Möglichkeit, die Bereiche zu vermessen: Schließlich kann man auch dem Intervall [0, 1], das unendlich viele Zahlen enthält, eine endliche Länge von eins zuordnen. Möglich macht das die mathematische Disziplin der Maßtheorie.
Diese beschäftigt sich – wie der Name nahelegt – damit, verschiedensten Objekten ein Maß zuzuordnen: sei es eine Länge, eine Fläche, ein Volumen oder höherdimensionale Analoga davon. Eine Variante, das zu tun, bietet das »Lebesgue-Maß«. Tatsächlich ordnet es geometrischen Objekten dieselben Größen zu, die wir durch altbekannte Methoden (etwa durch das Anlegen eines Lineals oder mit den Formeln für den Flächeninhalt) erhalten würden. Es lässt sich aber auch auf allgemeinere Fälle anwenden, die unsere Methoden übersteigen. So entspricht das Lebesgue-Maß des Intervalls [0, 1] dem Wert eins.
Das Lebesgue-Maß nutzt man auch, um Wahrscheinlichkeiten aus den Wahrscheinlichkeitsdichten zu bestimmen. In diesem Fall definiert das Maß ein Integral, wodurch man die Fläche unterhalb der Wahrscheinlichkeitsdichte berechnen kann. Möchte man also das Lebesgue-Maß von einzelnen Punkten (und damit auch von endlichen Mengen) bestimmen, kommt immer null dabei heraus – das muss so sein, da einzelne Ereignisse in unendlich großen Ereignisräumen mit einer Wahrscheinlichkeit von null auftreten. Doch auch das Lebesgue-Maß von abzählbar unendlich großen Mengen wie den natürlichen oder den rationalen Zahlen ist null. Damit können wir die Frage beantworten: Die Wahrscheinlichkeit, dass der Zufallsgenerator aus dem Intervall [0, 1] zufällig eine Bruchzahl ausspuckt, beträgt null. Die Chance, auf eine irrationale Zahl zu stoßen, ist dagegen eins. Das heißt allerdings nicht, dass man niemals eine rationale Zahl erhalten wird – sondern nur, dass es sehr unwahrscheinlich ist.
Wer hätte gedacht, dass hinter Darts so viel Mathematik steckt? Wem das alles zu kompliziert ist, kann stattdessen auf eine elektronische Dartscheibe zurückgreifen: Da diese bloß endlich viele Lücken zwischen den Noppen aufweist, lässt sich jedem Treffer eine endliche Wahrscheinlichkeit zuordnen – und man kann getrost auf den anstrengenden Ausflug in die Maßtheorie verzichten.
Was ist euer Lieblingsmathetheorem? Schreibt es gerne in die Kommentare – und vielleicht ist es schon bald das Thema dieser Kolumne!
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