Freistetters Formelwelt: Die Mathematik des guten Autofahrens
Bei einer Recherche über Verkehrswissenschaft bin ich kürzlich auf ein interessantes mathematisches Konzept gestoßen. Eigentlich habe ich mich für das Phänomen des induzierten Verkehrs interessiert, also den Effekt, der entsteht, wenn irgendwo neue Straßen gebaut werden, um das bestehende Netz zu entlasten. Das passiert jedoch so gut wie nie, denn neue Straßen verursachen neuen Verkehr, der zuvor nicht stattgefunden hat. Auf Umwegen habe ich dann aber diese Formel entdeckt:
Es handelt sich um »Newell's car-following model« und beschreibt, wie Autos einander im Straßenverkehr folgen. Mit xn (t) wird die Position des n-ten Autos zum Zeitpunkt t beschrieben. Die Position des vorausfahrenden Autos in der Kolonne wird von xn−1 (t) gegeben. Aus der Gleichung ist leicht ersichtlich, dass der räumliche Abstand zwischen ihnen mit dn und der zeitliche durch tn beschrieben wird.
Zeichnet man die Positionen der Autos zu bestimmten Zeitpunkten in ein Diagramm ein, wird schnell klar, dass sie sich quasi identisch bewegen – sie sind nur um einen durch t und d gegebenen Vektor zueinander verschoben. Das ist nicht schwer zu verstehen. Was mir dagegen nicht sofort klar war: Wozu braucht man so etwas?
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Dass Autos, die hintereinanderfahren, ihre Geschwindigkeit und ihren Abstand irgendwie aufeinander abstimmen müssen, ist trivial. Aber wenn man ein wenig genauer darüber nachdenkt, ist es nicht überraschend, dass man sich auch mathematisch damit beschäftigt. Und tatsächlich gibt es nicht nur das Modell des US-amerikanischen Mathematikers Gordon Frank Newell, sondern jede Menge andere. Die kürzlich erschienene Übersichtsarbeit »Car-Following Models: A Multidisciplinary Review« listet insgesamt 27 unterschiedliche Modelle auf, mit denen man hintereinanderfahrende Autos beschreiben kann. Newells Ansatz ist eines davon, das einerseits mathematisch sehr einfach, andererseits aber sehr genau ist.
Lieber auf die Bahn umsteigen?
Man kann es unter anderem dazu benutzen, die Aggressivität derjenigen einzuschätzen, die die Autos steuern. Menschliche Faktoren tauchen in der Gleichung zwar nicht auf (obwohl sie in späteren Erweiterungen des Modells hinzugefügt wurden), doch mit Newells Formel lässt sich eine Art ideales Verhalten beschreiben. Wie genau der zeitliche und der räumliche Abstand der Autos aussehen müssen, hängt natürlich von der jeweiligen Straße ab. Aber solche Daten lassen sich empirisch bestimmen, und wenn sich jedes Auto dann entsprechend dem Modell bewegt, läuft der Verkehr flüssig.
Alle Verkehrsteilnehmer reagieren zum richtigen Zeitpunkt auf Brems- oder Beschleunigungsmanöver der vorausfahrenden Autos. Wer allerdings lieber vorsichtig ist, wird vielleicht schon etwas früher bremsen und später beschleunigen – oder genau umgekehrt reagieren, wenn man ungeduldig und rücksichtslos ist: spät bremsen und früh wieder Gas geben. In beiden Fällen weicht die Kurve x(t) in einem entsprechenden Diagramm von dem ab, was durch das Modell vorgegeben wird.
Mit Newells Modell ließ sich auch zeigen, dass es unter anderem genau dieses übervorsichtige oder aggressive Verhalten ist, das Staus verursachen kann. Entsprechend erweiterte Modelle, die neben der Geschwindigkeit etwa Parameter zu Typ und Art des Fahrzeugs berücksichtigen, können genutzt werden, um die Emission von Schadstoffen in bestimmten Verkehrssituationen vorherzusagen. Die Modelle von Newell und anderen spielen eine wichtige Rolle bei Assistenzsystemen und der Entwicklung selbstfahrender Autos.
Wer sich trotz allem immer noch über die anderen Autofahrer ärgert, kann es ja mit der Bahn probieren. Es gibt dort zwar ebenfalls mathematisch beschreibbaren Ärger, doch das ist wieder eine andere Geschichte.
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