Freistetters Formelwelt: Mathematik ohne Existenzberechtigung?
Der legendäre indische Mathematiker Srinivasa Ramanujan war bekannt für seine unorthodoxe Arbeitsweise und seine Formeln, die er – zumindest in den Augen seiner Kollegen – völlig unerwartet wie aus dem Nichts produzierte. Zu den aus meiner Sicht erstaunlichsten Gleichungen gehört diese hier:
Sie sieht eigentlich recht harmlos aus, aber das Aussehen täuscht. Die Funktion p steht für die Partitionsfunktion und gibt die Anzahl an Möglichkeiten an, um positive ganze Zahlen in positive ganze Summanden zu zerlegen.
Die Zahl 4 lässt sich beispielsweise als 1+1+1+1, 1+1+2, 2+2, 1+3 oder einfach nur als 4 schreiben. Das sind fünf Möglichkeiten, also gilt p(4)=5. Die Zahl 5 kann man auf sieben Arten zerlegen, bei der Zahl 9 gibt es 30 Möglichkeiten und die Zahl 100 lässt sich auf erstaunliche 190 569 292 unterschiedliche Arten aufsummieren.
Anfang des 20. Jahrhunderts beschäftigten sich Mathematiker damit, eine allgemein gültige Formel zu finden, um für jede beliebige Zahl direkt die Zahl der möglichen Partitionen zu berechnen. Bis dahin bestand die einzige Möglichkeit, die Partitionsfunktion zu berechnen, mehr oder weniger darin, die unterschiedlichen Varianten auszuprobieren und abzuzählen. Das war bei kleinen Zahlen noch möglich, wurde aber bei größeren Zahlen sehr schnell sehr umständlich.
Auch Ramanujan beschäftigte sich mit dem Problem und stieß dabei auf das, was heute als »Ramanujan-Kongruenzen« bekannt ist. Eine davon wird durch obige Formel beschrieben: Wenn eine Zahl um genau 6 größer ist als ein Vielfaches von 11, dann ist auch der Wert der zugehörigen Partitionsfunktion ein Vielfaches von 11. Anders gesagt: Berechnet man die Zahl der Partitionen für 6, 17, 28, 39, 50, 61 und so weiter, dann ist das Ergebnis jedes Mal ohne Rest durch 11 teilbar.
Angesichts solcher Aussagen ist es durchaus verständlich, wenn Kollegen von Ramanujan behaupteten, alle positiven ganzen Zahlen wären dessen »persönliche Freunde«. Gemeinsam mit dem britischen Mathematiker Godfrey Harold Hardy gelang es Ramanujan auch zuerst, eine Näherungsformel zur Abschätzung der Partitionsfunktion zu finden und später sogar eine Formel zur direkten Berechnung der möglichen Partitionen.
Für mich ist diese Art der höchst kreativen und intuitiven Mathematik sich selbst genug. So wie die Kunst benötigt sie eigentlich keine weitere Begründung mehr; die solchen Formeln innewohnende Faszination ist als Existenzberechtigung absolut ausreichend. Dieser Meinung war auch Ramanujans Kollege und Freund Hardy, der – vor allem militärische – Anwendungen der Mathematik ablehnte und in seinen Memoiren schrieb: »Ich habe nie etwas ›Nützliches‹ gemacht. Keine Entdeckung von mir hat je oder wird wahrscheinlich je, direkt oder indirekt, zum Guten oder Bösen einen Unterschied zum Wohlergehen der Welt machen.«
Damit hat er sich natürlich getäuscht, denn früher oder später findet sich für jede mathematische Erkenntnis auch eine entsprechende Anwendung. Die »reine« Zahlentheorie, die Hardy gemeinsam mit Ramanujan betrieb, bildet heute die Grundlage aller Verschlüsselungssysteme, mit denen wir Internet und Onlinehandel betreiben. Und auch die so abstrakten Partitionen haben ihre Anwendungen in Informatik und Technik gefunden. Wenn es etwa darum geht, Rechenaufgaben auf Multiprozessorsystemen zu verteilen, so dass jeder Prozessor ungefähr die gleiche Menge an Arbeit zu erledigen hat, geht das nur mit der Berechnung der Partitionsfunktion. Wenn heute Wissenschaftler mit Supercomputern Klimamodelle erstellen oder bei der Entwicklung von Atomwaffen nukleare Explosionen simulieren, dann tun sie das unter anderem auf der Basis der Arbeit von Hardy und Ramanujan – und widerlegen so deutlich, dass ihre Entdeckungen keinen Beitrag zum »Guten oder Bösen« machen.
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