Stromversorgung: Mehr Ehrlichkeit wagen
Vor knapp einem Jahr, kurz nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima, hat sich Deutschland wohl endgültig aus der Kernenergie verabschiedet: Die ohnehin von der Bevölkerungsmehrheit spätestens seit Tschernobyl nicht mehr geschätzte oder gar geliebte Technologie verlor ihren letzten Rückhalt in der Politik. Die Koalition aus CDU, CSU und FDP machte den von ihr durchgesetzten Ausstieg aus dem Atomausstieg erneut rückgängig. Spätestens im Jahr 2022 soll der letzte Reaktor vom Netz gehen; acht Meilern wurde bereits im letzten Jahr die Betriebserlaubnis entzogen.
Dass diese so genannte Energiewende machbar ist, belegte der letzte Winter: Selbst als arktische Temperaturen Einzug in Deutschland hielten, brach die Stromversorgung nicht zusammen, wie verschiedene Kraftwerksbetreiber oder die Stromnetzagentur zuvor geunkt hatten. Das Netz blieb trotz der abgeschalteten Kernkraftwerke stabil, Blackouts traten nicht auf – wenngleich die Bundesrepublik kurz davor stand: Schuld daran waren aber offensichtlich Fehlprognosen über den Bedarf durch Händler an der Leipziger Strombörse, die zu riskanten Unterlasten im Stromnetz geführt hatten, obwohl ausreichend Stromkapazitäten zur Verfügung gestanden hätten.
Trotz der frostigen Bedingungen blieb Deutschland aber Netto-Stromexporteur: Bis zu 170 Gigawattstunden gingen im Tagesschnitt mehr über die Grenze in unsere Nachbarländer, als von dort importiert wurde – eine Leistung, die fünf bis sechs Kernkraftwerken entspricht. Zu verdanken hatten wir dies auch den mittlerweile installierten Fotovoltaikanlagen, die angesichts des sonnigen Hochdruckwetters zu den mittäglichen Spitzenlastzeiten bis zu 11 Gigawatt Strom produzierten. In Frankreich stand dagegen die Stromversorgung trotz der zahlreichen Kernkraftwerke mehrmals kurz vor dem Kollaps, weil viele Menschen dort mit stromfressenden Elektroheizungen ihre Wohnungen wärmen. Nur die Zufuhr aus Deutschland bewahrte unsere Nachbarn zeitweise vor kalten Unterkünften.
In den Abendstunden wurde es allerdings auch für Deutschland kritisch, da die Windenergie im ruhigen Hochdruckwetter so gut wie keinen Beitrag leistete und die Solarkraft naturgemäß ausfiel. Nur dank der so genannten Kaltreserve – etwa einer der Blöcke eines alten Kohlegroßkraftwerks in Mannheim, der dafür hochgefahren wurde – konnten Engpässe hierzulande vermieden werden. Das zeitweilige Abschalten verschiedener süddeutscher Gaskraftwerke verschärfte die Situation zusätzlich: Die Gaszufuhr aus Russland war gedrosselt worden, weil das Land den Energieträger selbst benötigte. Der Ausfall nur eines weiteren Großkraftwerks hätte den gefürchteten Blackout herbeiführen können. Das System war also zeitweise wirklich auf Kante genäht.
Auch wenn es sich dabei nur um eine Momentaufnahme handelt: Krisensituationen wie diese wird es im Rahmen der Energiewende noch häufiger geben – und die Politik wie Umweltverbände täten gut daran, einige, vielleicht auch schmerzhafte, Tatsachen zuzugeben, statt nur den Ausstieg aus der Kernkraft zu bejubeln. Mittlerweile tragen zwar die erneuerbaren Energien laut der Arbeitsgemeinschaft Energiebilanzen bereits fast ein Fünftel zum deutschen Energiemix bei, doch stieg letztes Jahr ebenso der Verbrauch an Braunkohle, und zwar nicht nur prozentual, sondern gleichermaßen in absoluten Zahlen. Sie trägt nun ein Viertel zur deutschen Stromerzeugung bei, was vielen Umweltschützern nicht schmeckt: Braunkohle ist der mit Abstand schmutzigste Energieträger hierzulande und trägt mit ihren Emissionen zur Luftverunreinigung bei. Organisationen wie Greenpeace fordern daher bereits, diese Kohlekraftwerke möglichst schnell abzuschalten und durch "saubere" Technologien zu ersetzen.
Der weitere Ausbau der erneuerbaren Energien aus Wind, Sonne, Wasser oder Biomasse ist allerdings ebenfalls nicht unproblematisch: Naturschützer beklagen bereits die Übernutzung von Wäldern für Holzpellets und "Vermaisung" der Landschaft, weil viele Landwirte für ihre Biogasanlagen Gründland umbrechen oder Getreideäcker umwidmen, um Mais anzupflanzen. Neben der optischen Monotonisierung des Kulturlandes verschwinden so auch Nutzflächen, die bislang für die Ernährung von Mensch und Vieh genutzt wurden. Ähnliches gilt für die vielerorts aus dem Boden sprießenden, großflächigen Solaranlagen, die ebenfalls Kulturland in einen flächendeckenden Industriepark umwandeln. Und schon lange ärgert viele Menschen die "Verspargelung" der Landschaft durch Windkraftanlagen. Unabdingbar sind außerdem Investitionen ins Stromnetz, um zum Beispiel den Strom aus Windparks vor der Küste in die Verbrauchszentren nach Süddeutschland zu leiten – wogegen sich hier und da Widerstand in der Bevölkerung regt.
Es wird noch Jahre dauern, bis diese Offshore-Windparks und die nötigen Trassen an Land stehen. Wohl noch mehr Zeit wird ins Land gehen, bis adäquate Stromspeicher verfügbar sind, die überschüssige Leistungen verwahren und bei Bedarf abgeben können. Und auch von den flexibel einsetzbaren Gaskraftwerken, die als Puffer beliebig hoch und herunter gefahren werden können, ist noch wenig zu sehen. Diese Infrastruktur kostet viel Geld, das mit Sicherheit der Verbraucher über steigende Strompreise aufbringen muss. So sinnvoll diese Investitionen in eine moderne Energieversorgung sind: Sie müssen sozialverträglich bleiben. Es darf nicht sein, dass Menschen in Nöte geraten, weil sie ihre Stromrechnung nicht mehr bezahlen können oder in kalten Wohnungen leben müssen, weil die Nachtspeicherheizung den Geldbeutel überstrapaziert.
Die Energiewende ist also nicht von heute auf morgen zu stemmen. Sie wird Geld kosten und zu bitteren Kompromissen zwingen – Anbieter wie Verbraucher, Politiker wie Umweltschützer. Beide Seiten sollten das nicht nur akzeptieren, sondern auch ihren jeweiligen Unterstützern ehrlich vermitteln. Nur so lässt sich vermeiden, dass die Energiewende ähnlich ideologiebelastet wird, wie es die Kernkraft einst war. Am Ende lohnt das Engagement, denn es winkt die vielleicht modernste und sauberste Energiebranche, die das Industriezeitalter bislang kennt – mit globalem Vorbildcharakter.
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