Designierte BMBF-Chefin Karliczek: Nur 'ein Herz' für die Wissenschaft?
Angela Merkel hat es geschafft. Bis Sonntag, 16 Uhr, als das CDU-Präsidium sich traf, hatte niemand ihre Kandidatin für das Amt der Bundesbildungsministerin auf dem Plan. Ein paar Minuten nach 16 Uhr verschickten die ersten Sitzungsteilnehmer Merkels Ministerliste per Kurznachricht, und einige mussten vermutlich sehr gewissenhaft tippen, um den Namen der Neuen richtig zu schreiben: Anja Karliczek.
"Anja wer?", fragt der "ZEIT Chancen Brief" heute Morgen, und genau diese Frage haben sich in Deutschlands Wissenschaftscommunity gestern Abend ziemlich viele gestellt. Heute Vormittag wird die erste Amtshandlung vieler Beamter im Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) darin bestehen, ihre neue Chefin zu googeln. Derweil erlebt Karliczeks Twitter-Account einen Boom: Innerhalb weniger Stunden hat sich ihre zuvor mäßige Zahl von Followern auf inzwischen mehr als 2000 verdoppelt.
46 Jahre alt ist Karliczek, stammt aus Brochterbeck bei Ibbenbüren in Nordrhein-Westfalen und ist Mutter von drei erwachsenen Kindern. Nach dem Abi ging sie zur Deutschen Bank in Osnabrück, lernte Bankkauffrau. Ein paar Jahre darauf absolvierte sie eine Ausbildung zur Hotelfachfrau und wechselte in die Leitung des elterlichen Vier-Sterne-Hotels im Teutoburger Wald. 2003 schrieb sie sich an der Fernuniversität Hagen ein und machte 2008 ihr Diplom in Betriebswirtschaftslehre. Das Thema ihrer Diplomarbeit scheint ihr so wichtig, dass sie es unter "Persönliches" auf ihrer Abgeordneten-Website aufführt: die "steuerliche Vorteilhaftigkeitsanalyse zur Auslagerung von Pensionsverpflichtungen aus Arbeitgebersicht". 2013 gewann Karliczek ihren Wahlkreis Steinfurt III und zog direkt in den Bundestag ein. Anfang 2017 übernahm sie das Amt einer parlamentarischen Geschäftsführerin ihrer Fraktion.
So weit die Fakten. Die politische Bewertung der Personalie Karliczek zerfällt in zwei Dimensionen, die nichts miteinander zu tun haben.
Die erste sagt wenig aus über Karliczek, dafür umso mehr über Angela Merkel und das BMBF. Knapp drei Wochen ist es her, dass schon mal eine Liste mit Ministernamen kursierte. Neben dem BMBF stand der Name Herrmann Gröhe, bisher Gesundheitsminister. Für die Authentizität der Liste gab es keine offizielle Bestätigung, was die Kanzlerin nach ein paar Stunden Stillschweigen betonte. Die paar Stunden Stillschweigen sind wichtig. Denn es handelte sich um einen Testlauf. Wie kommen die einzelnen Kandidaten an? Wie wirken sie in der Zusammenstellung? Und vor allem: Wird Merkel und der CDU damit die richtige Mischung aus Kontinuität und Neuanfang zugetraut?
Verfügungsmasse für die Personalplanung
Die öffentlichen Reaktionen müssen Merkel ernüchtert haben. Wo sind die neuen Gesichter?, hieß es. Wo sind die Geniestreiche, bei denen man sagt: Wäre ich nie drauf gekommen, aber tolle Idee! Und dann war da noch Jens Spahn, der 37 Jahre alte bisherige Finanzstaatssekretär, der sich selbst oder den die Medien plötzlich zum Merkel-Widersacher hochstilisierten. Der muss noch ins Kabinett!, forderten die einen, weil sie Spahn, der gerade erst wieder eine Leitkultur für die Schulen gefordert hatte, wirklich gut finden. Und die anderen, weil sie gern sehen wollten, was das mit Merkel, der CDU und der Regierung macht. Der stellvertretende "ZEIT"-Chefredakteur Bernd Ulrich twitterte: "Also ich finde, man sollte Spahn für all seine talentierte Chuzpe und seinen Hipster-Konservatismus mit dem Bildungsministerium bestrafen."
Womit Ulrich eines – unfreiwillig – deutlich machte: Das BMBF war Verfügungsmasse. Wie die Themen Bildung und Forschung es trotz anderslautender Beteuerungen so oft sind. Man erinnere sich nur daran, wie die Sozialdemokraten im Bundestagswahlkampf emphatisch die Bildungskarte spielten, um dann bei der Postenverteilung zum Finale der GroKo-Verhandlungen anderen Ministerien den Vorzug zu geben. Nur herrschte bislang bei Merkel, der promovierten Physikerin, der Eindruck vor, dass sie die zentrale Bedeutung vor allem der Wissenschaft erkannt hatte. Die frühere BMBF-Chefin Annette Schavan galt als eine ihrer engsten Vertrauten, und auch Schavans Nachfolgerin und Nochamtsinhaberin Johanna Wanka, Professorin, Mathematikerin, ehemalige Hochschulrektorin und langjährige Landeswissenschaftsministerin, ist ein echter Profi im Wissenschaftsmetier.
"Ich denke, sie wird auch ein großes Herz für die Wissenschaft haben"Angela Merkel
Schon Herrmann Gröhe hatte nicht als selbsterklärende Wahl fürs BMBF gegolten, aber zum Wackelkandidat wurde er in den folgenden Wochen aus ganz anderen Gründen: mit 57 Jahren zu alt. Und, wenn Spahn noch ins Kabinett sollte, ein Mann zu viel. Vergleicht man nun Merkels gestrige Liste mit der vor drei Wochen kolportierten, fällt auf: Vier der sechs Zuordnungen blieben gleich. Nummer 5: Gesundheitsministerium, Spahn rein, die zuvor gesetzte Anette Widmann-Mauz wird stattdessen Staatsministerin für Integration im Kanzleramt. Nummer 6: BMBF, Gröhe raus, und zwar komplett. Dafür Anja Karliczek rein. Offensichtlicher kann man themenfremde Personalrochaden nicht machen.
Womit wir bei der zweiten Dimension der Bewertung wären: Was kann die Kandidatin, was ist von ihr zu erwarten? Die wichtigste Feststellung ist zugleich eine Mahnung an alle in der Szene, die Medien eingeschlossen: bitte keine voreiligen Urteile. Nur weil Karliczek aus themenfremden Erwägungen der Kanzlerin ihren Posten ergattert, heißt das nicht, dass sie ihren Job schlecht machen wird. Angela Merkel sagte laut "Bild" über ihre Kandidatin fürs BMBF, sie sei davon überzeugt, "dass sie die Aufgabe, die ja neu für sie jetzt ist, sehr gut ausfüllen wird". Sie sei das lebendige Beispiel dafür, wie sich berufliche Bildung, Vereinbarkeit von Beruf und Familie und akademische Bildung auf neuen und ungewohnten Bildungswegen vereinbaren lassen.
Karliczek als Verfechterin für Durchlässigkeit und Aufstieg durch Bildung?
Die Charakterisierung, die Merkel hier vornimmt, ist aussagekräftiger und wegweisender, als man auf den ersten – kritischen – Blick denken könnte. Die GroKo hat sich geeinigt, das Grundgesetz zu ändern, damit der Bund in der Bildungspolitik weit mehr als bislang mitreden kann. Untermauert werden die Bundesbildungsambitionen mit allein fünf Milliarden für einen Digitalpakt und zwei Milliarden für Investitionen in mehr Ganztag. Ein BMBF-Chef Gröhe wäre dennoch ein Mann der Wissenschaft gewesen, bei Schulen und Kitas stand er nicht in Verdacht, überschäumende Visionen zu entwickeln.
Eine BMBF-Chefin Karliczek hingegen wird das neue große Bundesthema Bildung ins Zentrum des ministeriellen Handelns rücken. Weil sie selbst, wie Merkel zu Recht betont, einen ungewöhnlichen Weg durch die Bildungsinstitutionen gegangen ist. Weil sie die Nöte einer Azubi persönlich genauso erfahren hat wie die Selbstüberwindung, die es erfordert, ein Fernstudium (Abbrecherquote: weit über 50 Prozent) erfolgreich durchzuziehen, mit drei kleinen Kindern zu Hause, und das auch noch in respektabler Zeit. Man muss die Hoteliertochter nicht übertrieben zur Bildungsaufsteigerin erklären, um voraussagen zu können, dass Durchlässigkeit und Aufstieg durch Bildung maßgebliche Themen ihrer Amtszeit werden dürften. Weswegen auch die Fachhochschulen aufhorchen dürften. Kurzum: Den Sozialdemokraten dürfte Karliczek im BMBF besser gefallen als Gröhe. Wird es der Union, die gerade über ihr (konservatives?) Profil streitet, ähnlich gehen? Oder setzt Merkel hier wieder eine ihrer nun schon zahlreichen und oft erst auf den zweiten Blick sichtbaren Modernisierungskampagnen an?
Ganz zuletzt, und das ist kein Zufall, zum Thema Forschung. Der Satz, mit dem Angela Merkel bei Karliczeks Vorstellung die thematische Kurve kriegen wollte, mutet fast hilflos an. "Ich denke", sagte Merkel, "sie wird auch ein großes Herz für die Wissenschaft haben." Anders formuliert: Auch die Kanzlerin hat keine Ahnung, wie das laufen wird. So wie Karliczek, bislang Mitglied des Finanzausschusses und Fraktionsberichterstatterin für Lebensversicherungsreformgesetz und betriebliche Altersvorsorge, vermutlich passen müsste, wenn man sie heute nach den Chefs der großen Forschungsorganisationen und Hochschulen fragen würde.
Aber kommt es darauf eigentlich an? Gelegentlich ist sie schon erstaunlich, die Selbstverständlichkeit, mit der die Wissenschaft auf ihre gesellschaftliche Bedeutung pocht, während gleichzeitig immer noch zu viele ihrer führenden Forscher mit den Achseln zucken, wenn es um die Forderung nach einem wirklich niedrigschwelligen Austausch mit der Gesellschaft geht. Er habe den Eindruck, als dienten viele Schlagwörter und Rituale der Szene auch dafür, sich vor zu viel Interesse von außen abzuschotten, sagte mir neulich ein Journalist einer großen Zeitung und langjähriger Kenner der Hochschul- und Wissenschaftspolitik. Vielleicht braucht es jetzt einmal eine Bundesforschungsministerin, die die Wissenschaftsmanager der Republik bei ihren Antrittsbesuchen fragt, warum die Dinge eigentlich so laufen müssen, wie sie laufen. Und ob es nicht auch ganz anders ginge. Fragen, wie sie sich wohl nur eine Politikerin zu formulieren traut, die keinen Expertenruf in der Szene zu verteidigen hat. Auf die Antworten dürfen wir gespannt sein.
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