Kolumnen: Mensch und Aal
Es gibt so viel Nützliches, so viel Wissenswertes. Lebenslang sollen wir lernen, um uns für die Anforderungen einer sich rasend schnell verändernden Welt zu wappnen. Wie erfreulich ist es da, dass es auch Dinge gibt, die man nicht wissen muss, die herrlich unnütz und dennoch wahr sind. Man könnte sie glatt vergessen. Aber ich halte es mit Immanuel Kant, der den Verlust seines treuen Dieners Lampe kaum verschmerzen konnte und sich auf einen Zettel, den er gut sichtbar auf seinen Schreibtisch legte, schrieb: »Lampe muss vergessen werden!«
Von daher bin ich den Herausgebern von Gehirn&Geist äußerst dankbar, dass sie mir diesen Winkel der Irrelevanz, der Nutzlosigkeit, des Widersinns und der Ironie eingerichtet haben. Für die wissenschaftliche Korrektheit dessen, was ich hier vorzutragen gedenke, stehe ich gerade. Für die gleich folgenden Sarkasmen auch. Sarkos ist griechisch und heißt »Fleisch«. Sarkasmus ist also diejenige Ironie, die ins Fleisch schneidet. Ich bin Anatom, Zergliederer. Anatomie hat mit dem Fleisch zu tun, dem Fleisch des Menschen nämlich. Sarkastische Anmerkungen zum Menschen also. Und zu einem Aal.
DER MENSCH
Krone der Schöpfung. Vernunftbegabt, mitunter zumindest. Sprachmächtig. Ebenbild Gottes, vom Geiste beseelt. Das alles natürlich qua Funktion des Gehirns, deshalb heißt das Magazin in Ihrer Hand ja so. Wer vom Menschen redet, redet vom Gehirn, wer von des Menschen Gehirn redet, redet von dessen Cortex. Oh, dieser Cortex! »Der menschliche Cortex ist das komplizierteste Organ im Universum« – in Sprüchen wie diesen beweihräuchert die neuroforschende Wissenschaftsgemeinde das Organ, das als Forschungsobjekt ihren Lebensunterhalt sichert. Und sich selbst als Träger und, besser noch: Erforscher dieses Organs gleich mit.
Superlative sind immer gut. Früher stand über den Kirchenportalen »D.O.M.« – »domino optimo maximo«, »dem allergrößten, allerbesten Gott«. Nachdem manchem die Götter abhandengekommen waren, ward der Mensch zum Maß aller Dinge, später die Vernunft, und nun ist’s eben das Organ, das die Vernunft vermeintlich abscheidet wie die Niere den Urin: der Cortex. Das größte, beste, tollste, komplizierteste Vernunftabscheidungsorgan des Universums. Die kosmische Niere, die galaktische Gülle … ääh: Fülle der Vernunft absondernd.
Oh, dieser Cortex, diese graue Rinde! Superlative, wohin man schaut. Nervenzellen: Milliarden. Synapsen: Myriaden. Fein säuberlich geschichtet, diese Rinde, in sechs Lagen mit sexy Namen, darunter zwei Schichten, die die Großartigkeit schon im Namen tragen: Stratum pyramidale externum und internum. »Die Zeit überdauert alles, aber die Pyramiden überdauern die Zeit«, sagt man in Ägypten. Und hier, in diesen sechs Schichten des Cortex, hat die Evolution, hat die Natur dem Menschen ein Denkmal gesetzt, die Welt übertürmend, die Zeiten überdauernd, »monumentum aere perennius«, ein »Denkmal dauerhafter als Erz«.
Wow. Aber es kann sicher nicht schaden, von der turmhohen Warte der corticalen Überlegenheit aus ein wenig in die Welt zu schauen, und zu gucken, was sich dort so tummelt.
DER SCHLEIMAAL
Aber wenn man weiß, wie er so lebt, der Schleimaal, dann wird’s mit dem Marketing von Schleimaalunterwäsche, -kondomen und -delikatessen ein wenig schwierig. Am Meeresgrund, tief drunten. Sterbende Fische sinken hinab oder sitzen in Fallen und Netzen, die Fischer für sie auslegten. Durch die Öffnung des Mundes und des A … Anus, wollt’ ich sagen, dringen die Schleimaale in die Körper ihrer Opfer ein, ersticken sie mit ihrem Schleim und fressen sie von innen auf. Walfischkadaver, sofern hinreichend angefault, werden auch gerne von außen genommen.
Es gibt sie, die Schleimaale, in ungeheuren Massen, wie die Menschen. Und die Biomasse, die sie auf sich vereinigen (also sozusagen das Gesamtgewicht aller Schleimaale), ist vermutlich höher als die der Menschheit. Evolutionär gesehen ist also der Schleimaal das erfolgreichere Modell.
Das macht ja auch Sinn. Denn der Schleimaal, meine Damen und Herren, der Schleimaal hat einen Cortex, und der hat nicht sechs Schichten, sondern deren sieben. Womit klar ist: Wir haben unser Evolutionsziel noch nicht erreicht. Das Beste kommt erst noch!
Postskriptum:
Was hier über den Schleimaal steht, ist wahr, ich hab es zum Teil selber erforscht. Gehen Sie zu »PubMed« und geben Sie »hagfish AND nervous system« ein, wenn Sie neuere Originalpublikationen zur Neuroanatomie des Aales sehen wollen.
Weitere Quellen: »The Biology of Hagfishes«, Chapman and Hall, 1998; »The Biology of Myxine«, Universitetsforlaget Oslo, 1963.
Helmut Wicht ist promovierter Biologe und Privatdozent für Anatomie an der Dr. Senckenbergischen Anatomie der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main.
Von daher bin ich den Herausgebern von Gehirn&Geist äußerst dankbar, dass sie mir diesen Winkel der Irrelevanz, der Nutzlosigkeit, des Widersinns und der Ironie eingerichtet haben. Für die wissenschaftliche Korrektheit dessen, was ich hier vorzutragen gedenke, stehe ich gerade. Für die gleich folgenden Sarkasmen auch. Sarkos ist griechisch und heißt »Fleisch«. Sarkasmus ist also diejenige Ironie, die ins Fleisch schneidet. Ich bin Anatom, Zergliederer. Anatomie hat mit dem Fleisch zu tun, dem Fleisch des Menschen nämlich. Sarkastische Anmerkungen zum Menschen also. Und zu einem Aal.
DER MENSCH
Krone der Schöpfung. Vernunftbegabt, mitunter zumindest. Sprachmächtig. Ebenbild Gottes, vom Geiste beseelt. Das alles natürlich qua Funktion des Gehirns, deshalb heißt das Magazin in Ihrer Hand ja so. Wer vom Menschen redet, redet vom Gehirn, wer von des Menschen Gehirn redet, redet von dessen Cortex. Oh, dieser Cortex! »Der menschliche Cortex ist das komplizierteste Organ im Universum« – in Sprüchen wie diesen beweihräuchert die neuroforschende Wissenschaftsgemeinde das Organ, das als Forschungsobjekt ihren Lebensunterhalt sichert. Und sich selbst als Träger und, besser noch: Erforscher dieses Organs gleich mit.
Superlative sind immer gut. Früher stand über den Kirchenportalen »D.O.M.« – »domino optimo maximo«, »dem allergrößten, allerbesten Gott«. Nachdem manchem die Götter abhandengekommen waren, ward der Mensch zum Maß aller Dinge, später die Vernunft, und nun ist’s eben das Organ, das die Vernunft vermeintlich abscheidet wie die Niere den Urin: der Cortex. Das größte, beste, tollste, komplizierteste Vernunftabscheidungsorgan des Universums. Die kosmische Niere, die galaktische Gülle … ääh: Fülle der Vernunft absondernd.
Oh, dieser Cortex, diese graue Rinde! Superlative, wohin man schaut. Nervenzellen: Milliarden. Synapsen: Myriaden. Fein säuberlich geschichtet, diese Rinde, in sechs Lagen mit sexy Namen, darunter zwei Schichten, die die Großartigkeit schon im Namen tragen: Stratum pyramidale externum und internum. »Die Zeit überdauert alles, aber die Pyramiden überdauern die Zeit«, sagt man in Ägypten. Und hier, in diesen sechs Schichten des Cortex, hat die Evolution, hat die Natur dem Menschen ein Denkmal gesetzt, die Welt übertürmend, die Zeiten überdauernd, »monumentum aere perennius«, ein »Denkmal dauerhafter als Erz«.
Wow. Aber es kann sicher nicht schaden, von der turmhohen Warte der corticalen Überlegenheit aus ein wenig in die Welt zu schauen, und zu gucken, was sich dort so tummelt.
DER SCHLEIMAAL
Widerlich. Die Abgründe des Meeres bewohnend. Seinem Namen keine Ehre machend: Es ist gar kein Aal. Eher so eine Art Neunauge, ein Fisch ohne richtigen Kiefer. Aber mit einer fiesen, zahnbewehrten Zunge, mit der er, wie mit einer Kneifzange, durchaus einigen Flurschaden anrichten kann. Der kleine auf dem Bild kann Sie so zwicken, dass es blutet und hinterher ein centgroßes Stück Ihrer Haut fehlt. Es gibt aber auch welche, die sind armdick und meterlang, und die würde ich definitiv nicht mehr ärgern wollen. Der auf dem Bild ärgert sich nämlich gerade und macht seinem Namen damit dann doch Ehre: Ein solcher Aal, wenn er sich gestört fühlt, kann in Sekundenfrist das ihn umgebende Wasser in literweise Schleim verwandeln. Das macht er, indem er eine ausgesprochen quellfähige, von feinen Fäden durchsetzte Substanz aus Drüsen abscheidet – »Instant-Pudding-Pulver ohne Kochen« sozusagen. Die Fäden, die den Schleim erst richtig stabil machen, sind übrigens brauchbar: Es ist feinste Seide.
Man könnte elegante Unterwäsche daraus spinnen. Der Aal selbst ist auch brauchbar. Seine Haut liefert feinstes Leder. Ganz früher, als es noch keinen Gummi gab, hat man daraus, weil’s so dünn ist – na, raten Sie mal – genau: Kondome gemacht. Gefühlsechte. Essen kann man ihn auch: in Korea.
Aber wenn man weiß, wie er so lebt, der Schleimaal, dann wird’s mit dem Marketing von Schleimaalunterwäsche, -kondomen und -delikatessen ein wenig schwierig. Am Meeresgrund, tief drunten. Sterbende Fische sinken hinab oder sitzen in Fallen und Netzen, die Fischer für sie auslegten. Durch die Öffnung des Mundes und des A … Anus, wollt’ ich sagen, dringen die Schleimaale in die Körper ihrer Opfer ein, ersticken sie mit ihrem Schleim und fressen sie von innen auf. Walfischkadaver, sofern hinreichend angefault, werden auch gerne von außen genommen.
Es gibt sie, die Schleimaale, in ungeheuren Massen, wie die Menschen. Und die Biomasse, die sie auf sich vereinigen (also sozusagen das Gesamtgewicht aller Schleimaale), ist vermutlich höher als die der Menschheit. Evolutionär gesehen ist also der Schleimaal das erfolgreichere Modell.
Das macht ja auch Sinn. Denn der Schleimaal, meine Damen und Herren, der Schleimaal hat einen Cortex, und der hat nicht sechs Schichten, sondern deren sieben. Womit klar ist: Wir haben unser Evolutionsziel noch nicht erreicht. Das Beste kommt erst noch!
Postskriptum:
Was hier über den Schleimaal steht, ist wahr, ich hab es zum Teil selber erforscht. Gehen Sie zu »PubMed« und geben Sie »hagfish AND nervous system« ein, wenn Sie neuere Originalpublikationen zur Neuroanatomie des Aales sehen wollen.
Weitere Quellen: »The Biology of Hagfishes«, Chapman and Hall, 1998; »The Biology of Myxine«, Universitetsforlaget Oslo, 1963.
Helmut Wicht ist promovierter Biologe und Privatdozent für Anatomie an der Dr. Senckenbergischen Anatomie der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main.
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