Freistetters Formelwelt: Mit simplen Formeln das Universum verstehen
Wer ein Fachbuch über Astronomie aufschlägt, findet darin üblicherweise jede Menge Mathematik. Das ist nicht überraschend, denn so wie in anderen Naturwissenschaften ist die Mathematik auch hier die Grundlage für das Verständnis der Welt. Das war früher genau so, nur die Art der Formeln hat sich geändert. Heute benutzt man sehr oft Differenzialgleichungen und komplexe algebraische Formeln; in der Antike hat dagegen die Geometrie das Verständnis des Himmels dominiert.
Kürzlich habe ich einen Blick in »Über die Kreisbewegungen der Weltkörper« (»De revolutionibus orbium coelestium«) von Nikolaus Kopernikus geworfen. Kapitel 12 von Buch 1 trägt den Titel »Ueber die graden Linien, welche Sehnen im Kreise sind«. Darin findet sich als »zweiter Lehrsatz« folgende Beziehung:
Diese Formel stammt allerdings nicht von Kopernikus, sondern wurde schon lange vorher vom griechischen Gelehrten Claudius Ptolemäus aufgestellt. Es geht darin um ein Sehnenviereck: ein Viereck, dessen Eckpunkte auf seinem Umkreis liegen. Die Seiten des Vierecks sind also gleichzeitig Sehnen des Umkreises. Die Eckpunkte A und C liegen einander gegenüber; ebenso die Punkte B und D. Die obige Formel besagt: Wenn man die beiden Diagonalen im Viereck miteinander multipliziert, ist das Ergebnis genau so groß, wie wenn man von den vier Seiten die jeweils gegenüberliegenden miteinander multipliziert und dann die beiden Produkte aufaddiert.
Es ist klar, warum solche Beziehungen für frühe Astronomen wie Ptolemäus oder Kopernikus wichtig waren. Ohne das moderne Verständnis für Gravitationskräfte, die physikalischen Grundlagen der Bewegung und die für ihre Beschreibung notwendige Differenzial- und Integralrechnung muss man sich bei der Dynamik von Himmelskörpern zwangsläufig auf geometrische Beziehungen verlassen. Dreiecke, Verbindungslinien, Winkel – selbst ein Werk wie die »Astronomia Nova« von Johannes Kepler, das man durchaus als Fundament der modernen Astronomie bezeichnen kann, ist voll davon. Wie das dann klingt, zeigt ein Absatz wie dieser hier: »Um diese Untersuchung durchzuführen, addiere man die bekannten Winkel GAD und DAE, um GAE zu bekommen. Im Dreieck GAE bestimme man aus diesem Winkel und den Seiten GA und AE die Seite GE. Im Dreieck GFE nun ist der Winkel GFE Peripheriewinkel; also ist der Zentriwinkel GBE doppelt so groß wie jener. Der Winkel GFE aber wurde vorher schon durch seine beiden Teile GFA und AFE ermittelt.«
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Da muss man schon ordentlich aufpassen, um nicht den Überblick zu verlieren. Je mehr mathematische Beziehungen man für geometrische Objekte ableiten kann, desto größer ist die Chance, die Phänomene vernünftig zu beschreiben.
Der versteckte Pythagoras
Im Satz von Ptolemäus kann man übrigens auch eine viel bekanntere Formel erkennen. Betrachtet man den Spezialfall eines Rechtecks, dann sind die Seiten BC und AD gleich lang, ebenso wie AB und CD und die Diagonalen AC und BD. In diesem Fall vereinfacht sich der Satz von Ptolemäus zu AC2 = AB2 + BC2. Oder, so wie wir es in der Schule gelernt haben: In einem rechtwinkligen Dreieck ist das Quadrat der Hypotenuse gleich der Summe der Quadrate der beiden Katheten. Der »Satz von Pythagoras« (a2 + b2 = c2) ist also im Satz von Ptolemäus enthalten. Man kann daraus auch diverse Beziehungen über die Winkel im Viereck ableiten und Formeln zur Addition und Subtraktion von Winkelfunktionen.
Meine Beziehung zur Geometrie in der Astronomie ist ein wenig zwiespältig. Einerseits ist dieses Gebiet im Gegensatz zu vielen anderen Aspekten der modernen Mathematik auf jeden Fall anschaulich. Andererseits macht gerade das die Geometrie aber auch sehr verwirrend: Das Universum ist so komplex, dass man einen enormen Aufwand treiben muss, um es in simple geometrische Beziehungen zu fassen. Die abstrakten Formeln der modernen Mathematik sind vielleicht schwerer zu verstehen – lenken dafür aber weniger vom Verständnis unserer Welt ab.
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