Die fabelhafte Welt der Mathematik: Die irrationalste aller Zahlen
Ich wurde schon öfter gefragt, ob ich eine Lieblingszahl habe. Viele würden vielleicht auf Pi tippen: Immerhin habe ich der Kreiszahl schon so viele Artikel gewidmet, dass »Spektrum« ein ganzes Sonderheft damit füllen konnte. Doch um ehrlich zu sein, gefällt mir die Zwei von allen Zahlen am meisten. Ich finde sie irgendwie ästhetisch, und mit geraden Zahlen lässt sich gut rechnen. Wenn ich aber mal von natürlichen Zahlen absehe, dann muss ich zugeben, dass mir Pi wirklich ganz gut gefällt – einfach, weil ich im Lauf meiner Arbeit viel Wissen über diese Zahl angesammelt habe.
Irrationale Zahlen sind extrem faszinierend, weil man ihnen zwar beliebig nahekommen kann, sie aber nie vollständig erfasst. Ihre Nachkommastellen verschwinden ins Unendliche, ohne dass sie sich jemals wiederholen. Um sie greifbarer zu machen, behalfen sich Fachleute in der Vergangenheit oft mit Näherungen. Mit Brüchen ist es möglich, sich irrationalen Werten zumindest in der Theorie beliebig anzunähern. Für π kann man beispielsweise den Bruch 22⁄7 heranziehen. Er stimmt bis zur zweiten Nachkommastelle mit der Kreiszahl überein. Für viele praktische Anwendungen genügt eine solche Näherung bereits.
Geeignete Brüche zu finden, die einer irrationalen Zahl möglichst nahekommen, ist nicht immer einfach. Natürlich kann man die ersten x Nachkommastellen durch 10x teilen, etwa: 3,1415… ≈ 314159⁄10000. Aber häufig lassen sich kleinere Zähler und Nenner finden, die bessere Ergebnisse liefern, wie 22⁄7. So erkannte der chinesische Gelehrte Zu Chongzhi bereits im 5. Jahrhundert unserer Zeitrechnung, dass sich π durch 3927⁄1250 sehr gut nähern lässt: Der Bruch weicht nur um zwei Millionstel vom tatsächlichen Wert von Pi ab.
Wie sich aber herausstellt, kann man nicht allen irrationalen Zahlen gleich gut durch Brüche begegnen. Das bewegte Fachleute dazu, eine Art Maß für die Irrationalität einer Zahl zu formulieren – auch wenn das auf den ersten Blick absurd wirkt. Denn an sich ist eine Zahl rational oder irrational, aber nichts dazwischen. Wenn man allerdings vergleicht, wie kompliziert Brüche sein müssen, um sich einem irrationalen Wert möglichst gut anzunähern, findet man erhebliche Unterschiede. Und tatsächlich gibt es eine Zahl, die sich als die irrationalste Zahl von allen herausstellt.
Wie findet man die beste Näherung?
Möchte man eine irrationale Zahl durch einen Bruch nähern, hilft eine Entdeckung des 16. Jahrhunderts: so genannte Kettenbrüche. Dabei handelt es sich um ineinander verschachtelte Bruchzahlen, die nach einem bestimmten Schema aufgebaut werden und jede beliebige Zahl darstellen können.
Möchte man etwa die rationale Zahl 17⁄10 = 1,7 durch einen Kettenbruch ausdrücken, spaltet man sie erst in eine Summe aus einem ganzzahligen und einem bruchstückhaften Anteil auf: \(1 + \frac{7}{10}\). Letzteren Summanden schreibt man anschließend um, damit sich hinterher wieder ein ganzzahliger Teil abspalten lässt. Dafür bildet man den Kehrwert des Kehrwerts des Bruchs, also: \(1 + \frac{7}{10} = 1 + \frac{1}{(\frac{7}{10})^{-1}} = 1 + \frac{1}{\frac{10}{7}} .\) Da der neue Bruch 10⁄7 größer ist als eins, kann man diesen wieder als Summe (1 + 3⁄7) zerlegen und erhält: \( 1 + \frac{1}{1 + \frac{3}{7}} .\) Nun widmet man sich wieder dem übrig gebliebenen Bruch (3⁄7) und bildet erneut den Kehrwert des Kehrwerts: \( 1 + \frac{1}{1 + \frac{1}{\frac{7}{3}}} .\) Damit verfährt man wie zuvor, spaltet den ganzzahligen und bruchzahligen Wert der Zahl auf und erhält: \( 1 + \frac{1}{1 + \frac{1}{2 + \frac{1}{3}}} .\) Dann ist man fertig: Mit den zuvor definierten Schritten (Kehrwert des Kehrwerts bilden und den ganzzahligen Teil abspalten) kann man den Bruch nicht weiterführen. Die Kettenbruchentwicklung von 17⁄10 lautet also:
\[ \frac{17}{10} = 1+ \frac{1}{1 + \frac{1}{2 + \frac{1}{3}}} \]
Mit dem Verfahren lässt sich eine einfache Bruchzahl durch einen extrem komplizierten Ausdruck abbilden. Auch wenn sich der Sinn des Verfahrens nicht sofort erschließt, ermöglicht es, die ursprüngliche Zahl 1,7 durch verschiedene Bruchzahlen anzunähern.
Die erste Zahl, die im Kettenbruch erscheint, ist eine Eins (bevor der Bruch überhaupt auftaucht). Sie stellt die erste – zugegeben: nicht besonders gute – Näherung dar. Im nächsten Schritt dringt man etwas weiter nach rechts vor, ignoriert aber den größten Teil des Bruchs: \( 1 + \frac{1}{1 + …} = 2.\) Auch diese Näherung ist nur mäßig zutreffend. Doch es wird besser: Wenn man den nächsten Teil des Kettenbruchs berücksichtigt, erhält man: \( 1 + \frac{1}{1 + \frac{1}{2 +... }} = 1, 6666…\). Und im darauf folgenden Schritt entfaltet sich schließlich das exakte Ergebnis: \( \frac{17}{10} = 1+ \frac{1}{1 + \frac{1}{2 + \frac{1}{3}}}. \)
Die Macht von Kettenbrüchen
Nicht nur rationale Zahlen lassen sich durch Kettenbrüche ausdrücken, sondern auch irrationale. Für diese nehmen die Brüche allerdings kein Ende: Die Prozedur (Kehrwert des Kehrwerts bilden und den ganzzahligen Teil abspalten) muss man unendlich lange fortsetzen.
Um die Kettenbruchentwicklung von Pi zu berechnen, beginnt man beispielsweise folgendermaßen: π = 3,14159… = 3 + 0,14159… Dann bildet man den Kehrwert des Kehrwerts der Nachkommazahlen: \( 3+ \frac{1}{\frac{1}{0,14159…}} = 3+ \frac{1}{7,06251…} \). Nun spaltet man den ganzzahligen Anteil des letzten Terms ab und verfährt so weiter: \( 3+ \frac{1}{7 + 0,06251…} = 3+ \frac{1}{7 + \frac{1}{\frac{1}{0,06251…}}} = 3+ \frac{1}{7 + \frac{1}{15,99744…}} \). Der Kettenbruch für Pi nimmt dann folgende Gestalt an:
\[ \pi = 3 + \frac{1}{7 +\frac{1}{15+ \frac{1}{1+ \frac{1}{292 + \frac{1}{1+...}}}}} \]
Wieder kann man die Teile schrittweise von links nach rechts durchgehen, um Näherungen der Kreiszahl zu erhalten.
Teil des Kettenbruchs | Bruch | Wert | Abweichung |
---|---|---|---|
3 | 3 | 3 | 0,14159… |
\(3 + \frac{1}{7}\) | 22⁄7 | 3, 14285715 | 0,00126… |
\(3 + \frac{1}{7+ \frac{1}{15}}\) | 333⁄106 | 3, 1415094… | 8 · 10-5 |
\(3 + \frac{1}{7+ \frac{1}{15+ \frac{1}{1}}}\) | 355⁄113 | 3, 14159292… | 3 · 10-7 |
\(3 + \frac{1}{7+ \frac{1}{15+ \frac{1}{1+\frac{1}{292}}}}\) | 103993⁄33102 | 3, 14159265… | 5 · 10-10 |
Je mehr Terme des Kettenbruchs berücksichtigt werden, desto genauer fällt das Ergebnis aus. Das ist nicht allzu überraschend. Was vielleicht eher erstaunt, ist, wie gut diese Näherungen sind. Joseph-Louis Lagrange konnte im 18. Jahrhundert beweisen, dass Kettenbrüche die bestmöglichen Näherungen von irrationalen Zahlen liefern. Wenn man einen unendlichen Kettenbruch irgendwo abschneidet – für π etwa bei \(3 + \frac{1}{7+ \frac{1}{15+ \frac{1}{1+\frac{1}{292}}}}\) –, erhält man einen Näherungsbruch, wie 103993⁄33102. Und wie Lagrange zeigte, kann keine andere Bruchzahl mit kleinerem oder gleich großem Nenner π besser abschätzen.
In einer Welt ohne Computer oder Taschenrechner erwiesen sich Kettenbrüche daher als ungemein nützlich. Sie ermöglichten es, extrem gute Abschätzungen von irrationalen Zahlen zu finden. Doch während sich π recht gut durch Bruchzahlen nähern lässt, ist das nicht bei allen irrationalen Werten so.
Um zu verstehen, warum das so ist, muss man sich die Kettenbruchentwicklung genauer ansehen. Die Abschätzungen von π wurden beispielsweise unter Berücksichtigung des fünften Terms (\(3 + \frac{1}{7+ \frac{1}{15+ \frac{1}{1+\frac{1}{292}}}}\)) erheblich besser, als wenn man nur den vierten Term einbezog (\(3 + \frac{1}{7+ \frac{1}{15+ \frac{1}{1}}}\)). Grund dafür ist, dass der hinzukommende Bruch (1⁄292) einen großen Nenner besitzt: Die sich dadurch ergebende Zahl ist zwar sehr klein, da sie aber im Kehrwert auftaucht, liefert sie am Ende einen großen Beitrag.
Falls der Kettenbruch zu einer irrationalen Zahl hingegen bloß aus kleinen Zahlen besteht, konvergiert er nur sehr langsam gegen ein konkretes Ergebnis. Um eine gute Abschätzung zu erhalten, muss man also enorm viele Terme des Kettenbruchs berücksichtigen, was eine Berechnung sehr mühselig macht.
Der goldene Schnitt
Das prominenteste und wohl extremste Beispiel für eine irrationale Zahl mit einem langsamen Konvergenzverhalten ist der goldene Schnitt φ = 1 + √5⁄2. Diese irrationale Zahl wird oft mit Schönheit gleichgesetzt – und ihre mathematische Definition ist tatsächlich sehr elegant: φ beschreibt ein Längenverhältnis, bei dem eine Linie in zwei Stücke a und b aufgeteilt wird, wobei sich die Gesamtlänge (a + b) zu a so verhält wie a zu b. In Formeln ausgedrückt heißt das: φ = a + b⁄a = a⁄b.
Für die Kettenbruchentwicklung des goldenen Schnitts kann man die Gleichung etwas umschreiben: 1 + b⁄a = a⁄b = φ. Indem man für φ = a⁄b in die linke Seite der Gleichung einsetzt, erhält man: φ = 1 + 1⁄φ. Von dieser Gleichung lässt sich der Kettenbruch von φ schnell berechnen: Man muss immer nur die Formel für φ ( = 1 + 1⁄φ) in sich selbst einsetzen, also in den Nenner des Bruchs. Damit ergibt sich:
\[\phi =1 + \frac{1}{1+\frac{1}{1+\frac{1}{1+\frac{1}{1+\frac{1}{1+\frac{1}{1 +...}}}}}}\]
Dieser Kettenbruch ist mindestens so ästhetisch wie der goldene Schnitt selbst. Aber weil die verketteten Ausdrücke lediglich aus Einsen bestehen, konvergiert der Ausdruck nur sehr langsam gegen den irrationalen Zahlenwert von φ = 1,618033988...
Teil des Kettenbruchs | Bruch | Wert | Abweichung |
---|---|---|---|
1 | 1 | 1 | 0,618033… |
\(1 + \frac{1}{1}\) | 2 | 2 | 0,381966… |
\(1 + \frac{1}{1+ \frac{1}{1}}\) | 3⁄2 | 1,5 | 0,118033… |
\(1 + \frac{1}{1+ \frac{1}{1+ \frac{1}{1}}}\) | 5⁄3 | 1,66666… | 0,048632… |
\(1 + \frac{1}{1+ \frac{1}{1+ \frac{1}{1+\frac{1}{1}}}}\) | 8⁄5 | 1,6 | 0,018033… |
Selbst wenn man fünf Terme aus der Kettenbruchzerlegung berücksichtigt, hat man immer noch eine Abweichung, die mehr als ein Prozent beträgt. Um eine Bruchzahl zu finden, die den goldenen Schnitt gut nähert, muss man viel Rechenarbeit verrichten.
Da φ einen extremen Einzelfall darstellt, bei dem der gesamte Kettenbruch ausschließlich aus Einsen besteht, nennen Mathematiker den goldenen Schnitt auch die »irrationalste aller Zahlen«.
Im Grunde genommen gibt es sogar Zahlen, die noch viel irrationaler sind – von denen aber Lagrange und seine Zeitgenossen nichts wissen konnten. Denn unter den irrationalen Zahlen lauern auch nichtberechenbare Zahlen: Für diese lässt sich keine Rechenvorschrift (und damit auch kein Kettenbruch) angeben, um sie beliebig gut anzunähern. Damit sind solche Zahlen aus meiner Sicht noch irrationaler – aber das ist wahrscheinlich Definitionssache.
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