Warkus' Welt: Ist das Gute relativ?
Im Frühjahr 2023 habe ich zum ersten Mal in Italien eine Restaurantrechnung selbst bezahlt und war, wie vermutlich viele andere Reisende zuvor, erstaunt davon, dass kein Trinkgeld erwartet wurde. In anderen Ländern ist das bekanntlich ganz anders: In den USA beispielsweise sind deutlich über zehn Prozent üblich, am besten eher 20 Prozent, und kein Trinkgeld zu geben ist zwar nicht verboten, gilt jedoch als grober Verstoß gegen die ungeschriebenen Regeln des Zusammenlebens. Deutschland liegt irgendwo zwischen diesen beiden Extremen. Andere Länder haben sprichwörtlich andere Sitten.
Ist es möglich, dass das, was in Italien richtig ist, in den USA falsch ist und umgekehrt? In der Philosophie bezeichnet man die Ansicht, dass dieselbe Handlung in unterschiedlichen Kontexten, beispielsweise in verschiedenen Kulturen, als unterschiedlich wünschenswert zu betrachten sein kann, als moralischen Relativismus. Die Diskussion darüber, was Relativismus ist und welche Folgen er mit sich bringen würde, ist seit ein, zwei Jahrhunderten eines der großen Themen der Ethik – und, ganz nebenbei, nicht bloß der Ethik, denn es gibt relativistische Argumente in so ziemlich allen philosophischen Unterdisziplinen, zum Beispiel auch in der Erkenntnistheorie.
Die bloße Vorstellung, Relativismus könnte irgendwie gerechtfertigt sein, treibt viele Menschen zuverlässig auf die Palme. Warum soll eine bestimmte Handlung in einer Gesellschaft gut sein, in einer anderen jedoch schlecht?
Unüberbrückbare moralische Differenzen
Ein gängiges Argument sieht, stark vereinfacht, so aus: Es ist eine unbestreitbare Tatsache, dass es zwischen verschiedenen Menschengruppen erhebliche Unterschiede im moralischen Empfinden gibt. Das geht über harmlose Themen wie Trinkgeld weit hinaus. In bestimmten Kontexten werden etwa harte Strafen für Gotteslästerung akzeptiert oder dass Ehen durch Familien arrangiert werden; in anderen wird beides heftig abgelehnt.
Diese Unterschiede sind nicht nur erheblich, sie sind auch unüberbrückbar. Durch rationales Argumentieren lassen sich die Vertreter der widerstreitenden Ansichten nicht auf einen gemeinsamen Nenner bringen, denn es stellt sich in der Diskussion zum Beispiel heraus, dass die Grundlagen für die Abweichungen Glaubenssätze sind, an die mit Argumenten nicht heranzukommen ist. Wenn jemand der festen Meinung ist, dass Gott diejenigen strafen wird, die ihn lästern, und es daher eine rundum lobenswerte Sache ist, Gotteslästerung durch weltliche Gesetze zu unterbinden, weil dies die Gefahr von Höllenstrafen reduziert: Wie will ich ihn vom Gegenteil überzeugen?
Aus der Feststellung, dass es einschneidende Uneinigkeiten über moralische Fragen gibt und dass diese Uneinigkeiten sich nicht alle rational auflösen lassen, ergibt sich letztlich die Schlussfolgerung, dass Moral etwas Relatives ist. (Wozu genau relativ und was das für die Praxis bedeutet, ist eine andere Diskussion, die den Rahmen dieser Kolumne sprengen würde.)
Es wird Sie nicht wundern, dass dieses Argument an verschiedenen Punkten angreifbar ist. So wird die Existenz großer unüberbrückbarer moralischer Differenzen durchaus bezweifelt. Oft könnten diese lediglich auf Differenzen in der Einschätzung von Sachverhalten zurückgehen, während die eigentlichen moralischen Wertungen, die in die Urteile einfließen, sich gar nicht unterscheiden. Das lässt sich am Trinkgeld-Beispiel demonstrieren: Eventuell ist man sich in Italien und in den USA ja einig darüber, dass es unmoralisch wäre, Servicepersonal, das von seinem Gehalt allein nicht leben kann, das Trinkgeld zu verweigern. Nur die verbreiteten Überzeugungen darüber, wie gut oder schlecht Servicekräfte von ihrem Gehalt leben können, weichen zwischen den beiden Gesellschaften ab – möglicherweise zu Recht.
Ein drastischer, aber nicht von der Hand zu weisender Einwand gegen den Relativismus, der mir zu Beginn meines Studiums nahegebracht wurde, ist zudem, dass es starke Intuitionen dazu gibt, welche Handlungen in jedwedem Kontext falsch sein müssen. Das Beispiel meines Professors war damals, dass man sich schlechthin nicht vorstellen könne, dass es in irgendeiner Gesellschaft als moralisch gut gelte, Babys zu kochen. Wenn Relativismus sich sozusagen ausschließlich auf Themen aus der »zweiten Reihe« der dringlichen moralischen Fragen beziehen kann, ist vielleicht gar nicht so viel relativ.
Ich bin kein Ethiker und erst recht kein Experte für Relativismus. Ich werfe hier lediglich ein Schlaglicht auf eine Debatte, die so umfangreich ist, dass selbst komprimierte Lexikonartikel zum Thema Dutzende Seiten umfassen. Im Rahmen meiner begrenzten Kenntnisse lehne ich den moralischen Relativismus, heute wie vor 20 Jahren, entschieden ab. Die Frage, ob moralische Urteile zu Handlungen notwendigerweise von einem bestimmten kulturellen Kontext abhängig sind, lohnt sich aber intensiv zu betrachten – und sei es nur, um ein klareres Verständnis davon zu bekommen, was überhaupt ein moralisches Urteil, eine Handlung und ein kultureller Kontext ist.
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